Geheimnisvolle Sinne — Wie Lebewesen auf ihren Reisen das Magnetfeld der Erde messen

Fr, 30.08.2013 - 05:56 — Gottfried Schatz

Icon BiologieGottfried SchatzWenn unsere Zugvögel nun nach dem Süden aufbrechen, orientieren sie sich auf ihrer Route u.a. nach Stärke und Richtung des Magnetfelds der Erde. Diesen Magnetsinn teilen sie mit vielen anderen Lebewesen, angefangen von Bakterien bis hin zu Säugetieren. Wie die einzelnen Spezies das Magnetfeld „fühlen“ und verarbeiten, ist noch weitgehend unerforscht.

Wie ist die Welt um mich beschaffen? Ich kann sie sehen, riechen, hören, betasten und schmecken, doch obwohl ich für diese Sinne Hunderte verschiedener biologischer Sensoren und mindestens ein Zehntel meiner Gene einsetze, öffnen sie mir nur ein schmales Tor zur Wirklichkeit. Meine Augen sehen nur einen verschwindenden Teil des immensen elektromagnetischen Spektrums, meine Ohren sind taub gegenüber tiefen und hohen Tönen, und meine Nase ist stumpf gegenüber Millionen von Düften, die mich umgeben. Um die Grenzen der Sinne zu erweitern, suchen viele Menschen Zuflucht bei Esoterik, Mystik oder Drogen. Und entspringen nicht auch Wissenschaft und Kunst unserem Sehnen, die Pforten der Wahrnehmung zu erweitern? Welche Welt würde sich mir erschliessen, wenn ich ultraviolettes oder infrarotes Licht sehen, Ultraschall hören, elektrische Felder spüren oder das Magnetfeld der Erde wahrnehmen könnte?

Bakterien, Schildkröten, Hummer

Viele Tiere besitzen solche Sinne, und keiner von ihnen ist geheimnisvoller als der Magnetsinn. Unser Planet ist ein gigantischer Magnet, weil sich in seinem Inneren flüssige eisenhaltige Schichten gegeneinander bewegen (Abbildung 1). Das Erdmagnetische Feld

Abbildung 1. Das Erdmagnetische Feld (dargestellt als Feld eines Stabmagnets). Es verläuft nicht parallel zur Rotationsachse; seine Intensität ist am stärksten an den Polen, am schwächsten am magnetischen Äquator.

Die magnetischen Feldlinien verlaufen am Äquator ungefähr parallel zur Erdoberfläche und fallen gegen die beiden Pole hin immer steiler zu ihr ab. Schon früh «lernten» Lebewesen, diese Feldlinien als Wegweiser zu verwenden. Vor dreissig Jahren entdeckte ein amerikanischer Biologe, dass manche Sumpfbakterien stets an den Nordrand eines Wassertropfens wanderten, jedoch die umgekehrte Richtung wählten, wenn er das Magnetfeld um den Wassertropfen künstlich umpolte. Diese «Magnetbakterien» besitzen lange Ketten aus membranumhüllten Kristallen des magnetischen Eisenoxids Magnetit, die als Kompassnadel wirken und dem Antriebsmotor der Bakterien die Bewegungsrichtung vorgeben (Abbildung 2).

Magnetospirillum gryphiswaldenseAbbildung 2. Magnetospirillum gryphiswaldense. Diese im Wasser lebenden Bakterienzellen enthalten Ketten von Magnetitkristallen (unteres Bild), mit deren Hilfe sie sich zum Meeresboden orientieren. (Bild: Wikimedia Commons).

Ihr Magnetsinn zeigt den Bakterien die Richtung zum Meeresboden und hilft ihnen so, Wasserschichten zu finden, die weder zu viel noch zu wenig Sauerstoff enthalten. Auch höhere Lebewesen, die im Verlauf ihres Lebens spektakuläre Fernreisen unternehmen, orientieren sich am Magnetfeld der Erde. Dies gilt vor allem für Meeresbewohner, die im Halbdunkel der Meere über Tausende von Kilometern ihre Wege ziehen. Wenn eine Unechte Karettschildkröte an den Oststränden Floridas aus dem Ei schlüpft, eilt sie sofort nach Osten ins schützende Nass, schwimmt mit dem Golfstrom zur Kreiselströmung der atlantischen Sargassosee und kehrt erst einige Jahre später nach Florida zurück. Wenn sie auf ihrer Heimreise die Kreiselströmung am falschen Ort verlässt und in kühle nördliche Gewässer abirrt, bedeutet dies ihr Ende; und auch ein Abdriften in den Süden verhindert meist die lebenswichtige Rückkehr zur heimatlichen Küste. Das ausschlüpfende Junge eicht seinen Magnetsinn zunächst nach dem vom östlichen Meeresstrand her einfallenden Licht und misst dann im freien Meer wahrscheinlich den Winkel zwischen den magnetischen Feldlinien und dem Meeresboden. Da dieser Winkel gegen die Pole hin steiler wird, zeigt er der schwimmenden Schildkröte die geographische Breite; wie das Tier die geographische Länge ortet, ist noch rätselhaft.

Auch Mollusken, Hummer und viele Fische orientieren sich auf diese Weise. In all diesen Lebewesen, wie auch in Insekten und Säugetieren, finden sich winzige Magnetitkristalle, die denen von Magnetbakterien sehr ähnlich sind. In der Regenbogenforelle sind diese geordneten Kristallketten in besonderen Nervenzellen der Nasenregion angeordnet und über feine Proteinfäden mit der Innenseite der Zellmembran verbunden. So könnten sie die Kraft einer magnetischen Ablenkung auf die Membran übertragen, diese verformen und in ihr mechanisch empfindliche Schleusen für elektrisch geladene Metallatome öffnen. Dies ergäbe schliesslich ein elektrisches Signal, das an das Gehirn geleitet und von diesem als Positionsinformation entschlüsselt wird.

Zugvögel - und der Mensch?

Seine höchste Vervollkommnung findet der Magnetsinn in Zugvögeln, die sich auf ihren weltweiten Reisen je nach Umweltbedingungen an der Sonne, den Sternen und dem Magnetfeld der Erde orientieren. Langstrecken-Routen von ZugvögelnAbbildung 3. Langstrecken-Routen von Zugvögeln (Bild: L. Shyamal, Wikimedia Commons)

Sie verwenden dazu wahrscheinlich mindestens zwei verschiedene Magnetsensoren. Der erste besteht wie bei Bakterien und Fischen aus Magnetitkristallen, befindet sich im Schnabel und misst die Stärke des Magnetfelds. Der zweite Sensor sitzt in den Augen und dürfte vor allem die Richtung der magnetischen Feldlinien erkennen. Er ist wahrscheinlich ein Farbstoff, dessen Moleküle in der Netzhaut geometrisch präzise angeordnet sind. Licht könnte in diesen Molekülen eine chemische Reaktion bewirken, die vom Magnetfeld der Erde beeinflusst wird. Wie erlebt eine Brieftaube das Magnetfeld der Erde? Sieht sie es? Und wenn ja, sieht sie es als Farbe oder Muster? Sie könnte das Magnetfeld auch fühlen, schmecken oder riechen - je nachdem, wie ihr Gehirn die vom Auge gelieferte Information interpretiert.

Könnte es sein, dass das Magnetfeld der Erde auch mich beeinflusst? Mein Gehirn besitzt zwar Magnetitkristalle, doch nichts deutet darauf hin, dass sie mir einen sechsten Sinn verleihen. Hinweise, dass Änderungen des Magnetfelds den Gleichgewichtssinn, die Sehempfindlichkeit und sogar auch den Orientierungssinn von Testpersonen beeinträchtigen, stehen noch auf wackligen Beinen. Auch die Wirksamkeit von Wünschelruten ist noch unbewiesen. Dennoch würde ich es nicht ausschliessen, dass manche Menschen einen überentwickelten Magnetsinn besitzen und deshalb Verzerrungen des irdischen Magnetfelds durch Wasseradern oder Erzlager fühlen können.

Ich weiss so wenig von der Welt, die mich umgibt, und jede Frage zeigt mir aufs Neue die Grenzen meiner angeborenen Sinne. Um diese Grenzen zu erweitern, schaffen wir uns unablässig neue Sinne: magnetische Augen, um in das Innere unseres Körpers zu blicken; elektronische Finger, um einzelne Atome abzutasten; und gigantische Ohren, um nach Radiosignalen aus den Tiefen des Universums zu lauschen. Diese neuen Sinne schenken uns faszinierende Einblicke in das Wirken unseres Körpers, die Natur der Materie und die Geschichte des Universums, doch da sie Maschinen sind, sprechen ihre Signale nicht zu uns, sondern zu anderen Maschinen. Unsere neuen Sinne sind von uns geschaffen, aber nicht Teil von uns - und weil sie unser Herz vergessen, können sie uns nie ganz befriedigen. Die biologischen Signale unserer Sinneswelt - der Schrei einer Möwe, das Leuchten eines Glühwürmchens oder der Duft einer Rose - sprechen dagegen direkt zu unserem Herzen und lassen uns ahnen, dass wir Teil eines grösseren Ganzen sind. Selbst wenn wir das Magnetfeld der Erde nicht wahrnehmen können.


Weiterführende Links

Magnetsinn und Heimkehrvermögen der Tiere. Video 5:53 min. SWR Fernsehen (1.9.2012)

Magnetsinn der Vögel — Am Schnabel scheiden sich die Geister (Bericht FAZ, 19.4.2012)

Pioniere der Orientierungsforschung