Anmerkungen eines Laien zur Synthetischen Biologie – Teil 1

Fr, 21.06.2013 - 10:13 — Gerhard Wegner

ÖAWGerhard WegnerPassend zum Themenschwerpunkt Synthetische Biologie schreibt Gerhard Wegner, Physikochemiker und Gründungsdirektor des Max-Planck Instituts für Polymerforschung über die Synthetische Biologie als Produkt der Evolution der Naturwissenschaften. Im Rahmen des von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Symposiums über Synthetische Biologie im Mai d.J. hat er dazu einen Vortrag gehalten und dankenswerterweise dem ScienceBlog das Manuskript überlassen. Die ungekürzte Fassung erscheint auf Grund ihrer Länge in zwei Teilen.

Eine notwendige Vorbemerkung

Um es gleich zu sagen und um der Gefahr vorzubeugen, dass meine durchweg laienhaften, jedoch kritischen Anmerkungen zum Thema „Synthetische Biologie“ falsch verstanden werden:

Man darf einige der Fragestellungen, die von dieser als „neu“ bezeichneten Forschungsrichtung in den Fokus genommen werden, ohne Vorbehalt zu den wesentlichen Fragen derzeitiger Naturwissenschaft zählen. Sie sind Herausforderung und Ansporn zugleich. Sie fordern das ganze Arsenal der Fähigkeiten und Methoden grundverschiedener Disziplinen heraus, um der Lösung näher zu kommen.

Und dies macht die Problematik noch schwieriger, denn je nach Disziplin stellt sich die gleiche Frage in einer verschiedenen „Sprache“, wobei verschiedene und jeder Disziplin eigene Formalismen genutzt werden. Deshalb muss es auch „Übersetzer“ geben, wobei die Korrektheit der „Übersetzung“ in jedem Fall penibel zu prüfen ist; andernfalls sind der Verwirrung von Begriffen und Befunden keine Grenzen gesetzt. Dies gilt besonders für das Gespräch von Wissenschaft mit der interessierten Öffentlichkeit, insbesondere der Publizistik.

Zur Begriffsbildung der Synthetischen Biologie

Die Synthetische Biologie ist ein Produkt der Evolution – nämlich der Evolution der Naturwissenschaften. Um dies zu erläutern, nehmen wir den Studienprofessor „Schnauz“ aus Heinrich Spoerl’s Feuerzangenbowle (verfilmt 1944 mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle) zum Vorbild und sagen: „ Da stellen wir uns mal ganz dumm“, wenn wir in vielen Papieren zur „Synthetischen Biologie“ lesen dürfen, diese neueste Entwicklung der Wissenschaft habe die gleiche Bedeutung für die Biologie wie die „organische“ (gemeint ist jedoch „synthetische“) Chemie für die Chemie vor 200 Jahren!

Richtig daran ist: die Chemie war und ist es z.T. immer noch, - und hier gleicht sie der Biologie – eine beschreibende und analysierende Wissenschaft. Sie war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Lage, einzelne Stoffe, die auf der Ebene der Molekülstruktur eindeutig definiert waren, in reiner Form aus lebender Materie zu isolieren und nach den Regeln der Chemie zu beschreiben.

Der Nachweis, dass die behauptete Molekülstruktur richtig war, konnte im 19. Jh. jedoch nur durch die Synthese eines identischen Stoffes über einen Syntheseweg erbracht werden, der in allen Einzelheiten bekannt war und von dem man mit Sicherheit wusste, welche Atome zu welchem Molekülgerüst verknüpft werden würden.

Die Synthese auf nicht-biologischem Weg war also der eigentliche Strukturbeweis für den zuvor in reiner Form isolierten Naturstoff.

Die Komplexität der isolierbaren Naturstoffe machte es nötig, immer komplexere nicht-biologische Syntheseverfahren zu entwickeln, mit denen solche Stoffe synthetisiert werden konnten. Erst die Entwicklung moderner physikalischer Methoden der Strukturanalyse im 20. Jh. haben diesen mühevollen Weg des Strukturbeweises obsolet gemacht.

Andererseits hat die Notwendigkeit zur Entwicklung einer Methodik der Synthese den Zugang zu einer ungeheuer großen Anzahl von jeweils neuen Molekülen eröffnet, für die es in der Natur kein Vorbild gab oder gibt. In der Konsequenz eröffnete diese den Zugang zur Entwicklung von Farbstoffen, Medikamenten, Pestiziden, Polymeren – also dem gesamten Spektrum heutiger Chemischer Industrie.

Dürfen wir eine ähnliche Entwicklung für die „Synthetische Biologie“ erwarten, an deren Ende dann eine „Biologische Industrie“ stehen wird?

Ich glaube das nicht. Hier wird nämlich ein grundfalscher Vergleich gezogen: denn – erstens – gibt es bereits eine umfangreiche „biologische Industrie“. Nur nennen wir sie nicht so, weil wir die Namen „Agrarwissenschaft“, „Forstwirtschaft“ etc. eingeführt haben und – zweitens – geht es in der Biologie nicht um die Analyse und Herstellung von Stoffen, die molekular definiert sind, sondern um „Lebensformen“ mit komplexer innerer Struktur und komplexen Verhaltensmustern (Letzteres bezeichnet die Summe aller Wechselwirkungen einer Lebensform mit ihresgleichen und ihrer Umwelt).

Das ist qualitativ etwas ganz anderes als die Molekülstruktur eines Naturstoffes.

Lassen Sie uns versuchen, noch mehr über den Ursprung der „Synthetischen Biologie“ aus der Historie der Chemie und verwandter Gebiete zu erfahren:

Wie verhält es sich mit der Biochemie? Während die „organische“ Chemie zunächst nur nach der Struktur der Moleküle fragte, die aus lebender Materie isoliert werden konnte, trat alsbald die Frage auf:

Wie entstehen diese Moleküle und Stoffe innerhalb der jeweiligen Organismen? Und welche Rolle spielen sie in und für das Leben der Organismen?

Die Biochemie stellt(e) auch die Frage nach der Dynamik, d.h. der zeitlichen Variabilität der Entstehung und des Verbrauchs dieser Moleküle in den lebenden Organismen, d.h. nach den molekularen Bestandteilen des Stoffwechsels. Ein berühmtes Beispiel ist etwa die Aufklärung des Zitronensäure-Zyklus durch H. Krebs in der ersten Hälfte des 20.Jh.

Demgegenüber sind Gebiete wie „Naturstoffchemie“, die sich der Aufklärung und evtl. Synthese sehr komplexer Moleküle widmet, die sich aus lebenden Organismen isolieren lassen, oder auch die „Bioanorganische Chemie“, die nach der Rolle und den Bindungszuständen („Koordinationssphären) anorganischer Elemente in den zellulären Funktionseinheiten fragt, von weniger grundsätzlicher Bedeutung für die hier geführte Diskussion. Für letztere sind z.B. die Funktion von Eisen oder auch Mangan gebunden in Hämoglobin der Atmungskette oder Magnesium, gebunden in Chlorophyll des „Light-Harvesting-Systems“ der Pflanzen eingängige Beispiele.

Überhaupt nichts hat allerdings der moderne und eigentlich populärwissenschaftliche Begriff der „Green Chemistry“ mit der Biologie zu tun. Er meint in einer äußerst diffusen und nicht quantifizierbaren Weise, dass chemische Reaktionen unter Vermeidung umweltschädlicher Ausgangs- und Zwischenprodukte zu erwünschten Produkten und Stoffgruppen geführt werden (können). Der Begriff „milde Bedingungen“ spielt hier eine Rolle, wobei unklar bleibt, was „mild“ eigentlich bedeutet.

Genau so wenig Bedeutung für unsere Diskussion hat der Begriff „Organic Food“ bzw. „Organische Landwirtschaft“. Nichts könnte in größerem Widerspruch zur „Organischen Chemie“ stehen, denn die genannten Bewegungen für „Organic Food“ und „Organic Farming“ wollen ja ganz bewusst auf den Einsatz synthetischer Chemie – etwa in Form von Konservierungsmitteln, Pestiziden, Düngemitteln etc. verzichten und nur die „reinen“ pflanzlichen oder tierischen Materialien für die menschliche Ernährung nutzen.

Als Anekdote ist anzumerken, dass der Begründer der „Organic Food“-Bewegung, der amerikanische Journalist und Sachbuchautor Jerome Irving Rodale im Laufe einer Fernseh-Talk-Show, nachdem er gerade erklärt hatte, dass er - aufgrund der organischen Ernährung in bester Gesundheit 72 Jahre alt geworden - beschlossen habe, 100 Jahre alt zu werden und er sich nie so wohl gefühlt habe, wie gerade jetzt – tot vom Stuhle fiel: er erlitt einen Herzschlag! Jenseits anektodenhafter Bezüge soll hier nur auf die Verwirrung der Begriffe hier „organic“ („organisch“) hingewiesen werden, für die es noch viele Beispiele mehr gibt; aber dazu später, wenn wir über den Begriff „Leben“ zu sprechen haben.

Anders verhält es sich mit der „Präbiotischen Chemie“, die auch vielfach „chemische Evolution“ genannt wird. Es geht um die Frage, wie sich auf einer noch unbelebten Erde unter Bedingungen einer „Welturatmosphäre“ und unter Beteiligung von energiereicher Strahlung und /oder elektrischen Entladungen an der Grenzfläche von Wasser und mineralischen Stoffen organische Moleküle gebildet haben können.

Das Augenmerk richtet sich auf einfache Aminosäuren als Bausteine von Proteinen, auf Nukleobasen, wie z.B. Adenin, Guanin etc. und zuckerähnliche Moleküle (Kohlehydrate) als Bausteine von DNA und RNA sowie auf Fettsäuren. Die Hypothese ist seit den ersten Arbeiten von Urey und Miller (1953), dass primitive Organismen (d.h. Leben) spontan entstehen können, wenn die „Bausteine des Lebens“ auf abiotische Weise erzeugt, nur in genügend hoher Konzentration in der „Ursuppe“ vorliegen. Aus dieser Hypothese heraus hat sich ein ganzer Zweig der Chemie entwickelt, der als Vorläufer der synthetischen Biologie gelten kann. Freilich gehen die Forscher dieses Gebiet von zahlreichen und in wichtigen Teilen ungesicherten Hypothesen aus – wie z.B. Zusammensetzung und energetische Situation einer „Uratmosphäre“ – die hier nicht näher zu betrachten sind.

Die „Biophysikalische Chemie“ liefert die Methoden (z.B spektroskopische, optische und elektrische Methoden), um chemische Phänomene in (lebenden) Organismen, in Organellen und in geeigneten Modellsystemen zu untersuchen. Sie bildet die quantitative Vermessung des raum-zeitlichen Verlaufs der Phänomene (Beispiel: Öffnen und Schließen von Ionenkanälen in Zellen) auf allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten der Physikalischen Chemie und Physik ab.

Die Biophysikalische Chemie liefert Daten und Fakten, die für die Aufstellung von Modellen für die Bestandteile der Lebensprozesse notwendig und unabdingbar sind. Sie ist daher eine Grundlage der Synthetischen Biologie. Ähnliches gilt für die Biophysik, wobei die Fragestellungen der Biophysik und der Biophysikalischen Chemie fließend ineinander übergehen und häufig eher eine Frage des Standpunktes des Bearbeiters bezeichnen als das bearbeitete Phänomen selbst.

Das Wechselspiel zwischen Chemie und Biologie setzt sich seitens der Biologie mit dem Gebiet der „Molekularen Biologie“ fort und kumuliert gewissermaßen im Gebiet der Molekularen Zellbiologie.

Es geht um die Aufklärung des Ablaufs chemischer Reaktionen, der Entstehung und des Verbrauchs chemisch definierter Stoffe in den Organismen und ihrer Bestandteile, wie z.B. den Organellen, innerhalb von Zellen. Dabei spielen auch die räumliche Verteilung der Reaktionsorte sowie alle Transportprozesse eine Rolle. Hier wird also das komplette Geschehen innerhalb lebender Organismen in den Fokus genommen. Es handelt sich sozusagen um die Antwort der Biologie auf die Vorlagen der Chemie, d.h. die Einordnung der chemischen Befunde in die Abläufe der Prozesse, die das „Leben“ der Organismen ausmachen. Die Komplexität der einzelnen Prozesse und ihr komplexes Zusammenwirken wird beschrieben und liefert damit den Katalog der Forderungen, die an eine „Synthetische Biologie“ gestellt werden dürfen, insoweit es darum geht, Konstrukte zu erzeugen, die es erlauben, Lebensprozesse experimentell nachzustellen, ohne Beteiligung biogener Funktionseinheiten. (Das bezieht sich auf eine sehr radikale und gewissermaßen puristischen Definition der Synthetischen Biologie).

Haben wir bisher von Chemikern und Biologen gesprochen, so kommen jetzt die „Ingenieure“ ins Spiel. „Bioengineering“ (deutsch: Biotechnologie“) bezeichnet die Anwendung und Nutzung von Organismen, wie z.B. Bakterien, Hefezellen, Algen etc. für die Produktion von Chemikalien.

Für diese Zwecke sind bestimmte Verfahrenstechniken und Anlagen notwendig: das ureigenste Gebiet der Chemischen Verfahrenstechnik. Je nachdem, ob im Verfahren pflanzliche Zellen, tierische Zellen oder nur aus Zellkulturen isolierte Enzymkomplexe eingesetzt werden, spricht man von „grüner“, „roter“, oder „weißer“ Biotechnik: Unterscheidungen, die mit Wissenschaft und Technik wenig zu tun haben und wohl eher der „Political Correctness“ geschuldet sind.

Das gilt besonders für das Gebiet der „Gentechnik“ (engl. Genetic Engineering), das äußerst erfolgreich betrieben wird, jedoch aus ideologischen Gründen in der Öffentlichkeit mit Misstrauen betrachtet wird. Hier geht es um das Einschleusen von modifizierter DNA in Organismen, um deren Stoffwechsel gezielt umzuprogrammieren. Das erlaubt die Nutzung dieser umprogrammierten Organismen zur Produktion bestimmter Chemikalien mittels Biotechnik, aber auch die beschleunigte Züchtung von z.B. Krankheits-resistenten Pflanzen oder Tieren.

Hier ist nicht der Ort, um über Gentechnik zu referieren oder zu diskutieren. Es geht lediglich darum, möglichst viele Quellen und Arbeitsebenen aufzuzeigen, die mit der Synthetischen Biologie einen Zusammenhang aufweisen.

Unter vielen weiteren Gebieten sind vor allem noch drei weitere zu nennen:

Erstens die „Biomimetik“. In diesem Arbeitsgebiet werden Funktionen, die man aus lebenden Organismen kennt, durch synthetische Modelle nachgestellt. Ein bekanntes Beispiel ist der Transport von Molekülen bzw. Ionen durch synthetisch erzeugte Membranen mit dem Ziel, das biologische Vorbild – die Zellmembran – bezüglich Selektivität und Dynamik weitestgehend nachzubilden. Man möchte die Transportprozesse besser verstehen und quantifizieren. In der Regel versucht die Biomimetik, einzelne herausgegriffene Prozesse modellhaft dem Experiment zugänglich zu machen. Dabei tritt auch die Frage zu Tage, inwieweit das komplexe Verhalten eines Organismus durch ein einzelnes Phänomen sozusagen „pars-pro-toto“ dargestellt werden kann.

Es ist aber richtig, dass experimentelle Erfahrungen aus der Biomimetik ein Gerüst bilden, aus dem heraus „Synthetische Biologie“ sich entwickeln kann.

Häufig wird bei der Beschreibung der Ziele der Synthetischen Biologie auch die Erzeugung neuartiger oder zumindest „optimierter“ Materialien genannt: „Biomaterialien“ (manchmal auch als „intelligente“ oder „smarte“ Materialien bezeichnet).

Mir scheint das von sehr untergeordneter Bedeutung und eher dem Gebiet der Biotechnik als der Synthetischen Biologie zugehörig. Auch darüber lässt sich lange und kontrovers diskutieren, wozu hier nicht der Platz ist.

Schließlich nenne ich noch die „Bionik“, ein weiteres Gebiet, auf dem sich Biologen und Ingenieure treffen, das aber wenig oder keinen Bezug zu unserem Thema hat. Es geht nämlich um die Bewertung von makroskopischen Verhaltensweisen und Fähigkeiten von Lebensformen unter Gesichtspunkten der Physik und der Ingenieurswissenschaften also z.B. um die Flugfähigkeit von Insekten oder Vögeln, die Zusammenhänge von morphologischer Gestalt und Schwimmfähigkeit von Fischen, die Analyse des Sehverhaltens von Tieren usw. Also auch eine Sicht des Ingenieurs auf die Biologie, allerdings bezogen auf spezielle Fähigkeiten spezieller Lebensformen, aus der sich Hinweise auf die Gestaltung technischer Produkte ableiten.

Systembiologie und Synthetische Biologie

Die Vielzahl der Begriffe, Wissens- und Arbeitsgebiete verwirrt den Betrachter. Man hat den Eindruck, den der Besucher eines Symphoniekonzerts hat, wenn sich vor Beginn des Konzerts die Musiker im Orchestergraben versammelt haben und beginnen, ihre Instrumente zu stimmen. Disharmonien beleidigen das Ohr, aber gelegentlich hört man ein einzelnes Instrument heraus, das zaghaft eine Melodie antönt, mit der es zur kommenden großen Symphonie beitragen wird. Die Spannung steigert sich, wenn eine zunehmende Zahl von Instrumenten den Kammerton übernimmt bis der große Meister, der Dirigent, erscheint und alle Instrumente in die große Komposition einstimmt. Doch was ist das große Leitthema, was ist sein Rhythmus und wer gibt den Takt vor? Wenn man in die Vielfalt der Themen heutiger Aktivität hineinhört, gewinnt man den Eindruck, dass das große Thema „Systembiologie“ heißt, zunächst wenigstens.

Das Ziel ist es, Organismen ganzheitlich zu verstehen, d.h. ihre Komplexität in all ihren Komponenten und deren Wechselwirkungen in einem einheitlichen Bild zusammenfassen zu können. Die Beschreibung soll vollständig sein, d.h. alle Aspekte des Lebensprozesses zumindest einfacher Lebensformen umfassen. Sie soll von Genom über das Proteom, Bau und Funktion der Organellen bis hin zur Wechselwirkung des Organismus mit seinesgleichen und seiner Umwelt (= Verhalten) umfassen. Wichtiges Element dieser Beschreibung ist es, dass die Komplexität der Strukturen und ihrer Dynamik durch mathematische Modelle erfassbar gemacht werden, die es erlauben, Simulation des Verhaltens in Form von Antwortverhalten auf äußere oder innere Störungen des Systems vorzunehmen. Das Ziel dieses Vorhabens ist es sodann, die Grundlagen für eine echte Synthetische Biologie zu schaffen: Systembiologie als Grundlage und Ausgangspunkt einer Synthetischen Biologie.

Für die Synthetische Biologie ergeben sich daraus verschiedene Möglichkeiten der Definition:

a) Die Sicht des Ingenieurs auf die Biologie.

Mit „Ingenieur“ ist hierbei der „Homo-Faber“ gemeint, der in der Lage ist, Konstrukte hoher Komplexität und Funktionalität aus diversen Komponenten zusammenzufügen, wobei das Konstrukt Eigenschaften und Funktionen besitzt, die aus der Summe der Beiträge aller Komponenten in einer nicht-linearen Weise erwachsen. Mit anderen Worten, das Verhalten des Konstrukts lässt sich aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten nicht vorhersagen, wenn man nicht den Bauplan (oder Schaltplan) des Konstruktes kennt.

b) Die (Re)Konstruktion funktionsfähiger Minimalorganismen (Zellen) aus biogenen Komponenten

Es geht um den Versuch der Dekonstruktion lebender Organismen in Untereinheiten, gefolgt von der Absicht, aus diesen Untereinheiten, die eventuell von verschiedenen Organismen stammen, einen neuen Organismus zu konstruieren.

c) Die Definition eines Minimalsystems

Mit Hilfe der Erkenntnisse über die Komplexität lebender Organismen, d.h. aus der Systembiologie, sollen neue Minimalsysteme aus völlig synthetischen Bauelementen entstehen. Man hat den Namen „Xenobiologie“ dafür gefunden.

Welche ungeheure Aufgabe und titanische Herausforderung hinter dieser schlichten Beschreibung steckt, wird sofort klar, wenn man sich die Realität des Baus der einfachsten Elemente lebender Organismen vor Augen führt. Eine Zelle, für die sich schematische Abbildungen in jedem Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie finden, besteht aus einer großen Zahl von Komponenten, d.h. Organellen und Funktionseinheiten, die topologisch und funktional aufeinander bezogen sind; die Untereinheiten kommunizieren also miteinander.

Sie sind von der Außenwelt durch eine Zellmembran getrennt, über die die gesamte Kommunikation mit der Umwelt einschließlich des Stoffaustauschs verläuft.

Das Ganze spielt sich auf einer Längenskala von Molekülgröße im Bereich von einigen 10 Nanometern der Membrandicke bis einige 10 Mikrometer der Gesamtgröße der Zelle ab.

Im Querschnitt erschließen sich die Ordnungszustände im Inneren der Zelle noch besser. Die Bedeutung der Zellmembran wurde schon erwähnt. Alleine ihre Konstruktion mit eingelagerten membranständigen Enzym- und Transportproteinen in der notwendigen räumlichen Korrelation unter Erhalt der Dynamik der Membran ist eine gewaltige Herausforderung.

Innerhalb der Zelle, die sich als chemische Fabrik verstehen lässt, läuft eine sehr große Zahl metabolischer Prozesse ab, an denen hunderte von Zwischenprodukten beteiligt sind. Für die Komplexität der chemischen Prozesse steht beispielhaft der Brenztraubensäure-Zyklus, der hier nicht erläutert werden soll, sondern nur darauf hingewiesen wird, dass die einzelnen chemisch definierten Stoffe dieses Zyklus an räumlich verschiedenen, jedoch topologisch verbundenen Stellen der Zelle entstehen und verbraucht werden, d.h. also Transportmechanismen involviert sind, die den Prozess nicht dem Zufall überlassen.

In vollem Bewusstsein der Schwierigkeit der Aufgabe, sagen deshalb die Adepten der Synthetischen Biologie, dass es ihnen darum geht, eine sogenannte „Minimalzelle“ zu konstruieren. Diese Minimalzelle muss die essentiellen Bauelemente einer lebenden Zelle bzw. ihre synthetische Analoga enthalten bzw. umfassen:

  • Eine Zellmembran
  • Die Software mit der Anweisung zur Synthese der Hardware in Form von Proteinen und Enzymen innerhalb der Zelle: d.h. DNA oder Analoga
  • Enzyme (Katalysatoren) zur Aktivierung des Übersetzungsprozesses der Software in Hardware Ribosomen oder Analoga, d.h. die Maschinerie für den Bau von Proteinen (oder ihrer Analoga)
  • die Rohstoffe für die Reproduktion der Komponenten
  • usw.
  • MinimalzelleAbbildung 1. Einfachste Form einer Minimalzelle (Protocell, J. Szostak Lab.). Creative Commons License, for non-commercial uses http://exploringorigins.org/resources.html. 
  • Das Ganze muss in einer synthetischen Zelle so eingefangen werden, dass der Apparat bei Zuführung chemischer oder physikalischer Energie (z.B. Licht) zu arbeiten beginnt

Das ist, wie bereits gesagt, nur möglich, wenn die Komponenten entsprechend eines wohl-definierten Schaltplans angeordnet sind. Dafür gibt es Vorschläge, die sich aber bisher einer experimentellen Prüfung entzogen haben.

Es ist klar, dass die Maschinerie des Lebens eine Vielzahl von Komponenten umfasst, von denen jede einzelne selbst einen komplexen Aufbau in Form von Struktur und Dynamik besitzt. Daraus ergibt sich die prinzipielle Schwierigkeit des Projektes, also ein Dilemma. Je komplexer der Versuchsaufbau und je größer die Zahl der Komponenten im Versuch, desto anfälliger wird das Ganze für Fehler. Die bisherigen Experimente unter der Fahne der Synthetischen Biologie leiden unter mangelnder bzw. eingeschränkter Reproduzierbarkeit.


Details zum Autor und seinen Publikationen: Homepage desMax-Planck Instituts für Polymerforschung http://www.mpip-mainz.mpg.de/

Anmerkungen der Redaktion

Zum Themenschwerpunkt Synthetische Biologie sind bis jetzt erschienen:

Themenschwerpunkt: Synthetische Biologie — Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts?

Uwe Sleytr: Synthetische Biologie – Wissenschaft und Kunst

Wolfgang Knoll: Die biomimetische künstliche Nase – wie weit sind wir? Teil 1: Künstliche Sensoren nach dem natürlichen Vorbild unserer fünf Sinne Teil 2. Aufbau und Funktion physiologischer Geruchssensoren Teil 3: Konstruktion einer biomimetischen Nase

Michael Graetzel: „Der Natur abgeschaut:Die Farbstoffsolarzelle“ wird in Kürze in den ScienceBlog gestellt werden


Weiterführende Links

Eine hervorragende Broschüre: Synthetische Biologie: Eine Einführung. Zusammenfassung eines Berichts des European Academies Science Advisory Council (EASAC). 2011. (PDF-Download)