Aus der Sicht von Ludwig Boltzmann — eine Werkstätte wissenschaftlicher Arbeit im Jahre 1905

Fr, 07.06.2013 - 04:07 — Redaktion

Icon Physik

Der Physiker Ludwig Boltzmann [1] (1844 – 1906), einer der bahnbrechendsten Wissenschafter, die Österreich hervorgebracht hat, bricht im Juni 1905 zu einem längerem Gastaufenthalt an die Universität Berkeley/San Francisco auf. Auf dem Weg dorthin macht er vorerst in Leipzig halt um an der Sitzung des Kartells der Akademien der Wissenschaften teilzunehmen, welche ein Monumentalwerk, eine Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften aus Beiträgen der weltweit bedeutendsten Experten herausgeben will. Daß eine Beschreibung des damaligen wissenschaftlichen Lebens humorvoll aber nichtsdestoweniger durchaus kritisch ausfallen kann, macht der nachfolgende Text von Boltzmann offenbar – auch, daß geäußerte Kritikpunkte nach wie vor aktuell sind.

 

Ausschnitt aus Ludwig Boltzmann: „Reise eines deutschen Professors ins Eldorado”[2].

( Zwischentitel, Illustrationen und einige Anmerkungen sind von der Redaktion eingefügt.)

Zeitgenössische Karikatur Boltzmanns Ludwig Boltzmann
Abbildung – Ludwig Boltzmann: wie ihn sein Schüler der Physiker Przibram gesehen hat (links) und ein seriöses Foto aus dem Jahre 1902 (rechts) Quelle: Online Ausstellung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik, 2006; http://www.zbp.univie.ac.at/webausstellung/boltzmann/flash/boltzmann.htm.

„Der erste Teil meiner Reise stand unter dem Zeichen der Eile und in Eile soll er auch erzählt sein. Noch am 8. Juni wohnte ich der Donnerstagssitzung der Wiener Akademie der Wissenschaften in gewohnter Weise bei. Beim Fortgehen bemerkte ein Kollege, daß ich nicht wie sonst nach der Bäckerstraße, sondern nach dem Stubenring mich wandte und fragte, wohin ich gehe. Nach San Franzisko antwortete ich lakonisch.

Im Restaurant des Nordwestbahnhofes verzehrte ich noch in aller Gemütlichkeit Jungschweinsbraten mit Kraut und Erdäpfeln und trank einige Gläser Bier dazu. Mein Zahlengedächtnis, sonst erträglich fix, behält die Zahl der Biergläser stets schlecht. Als ich mit der Mahlzeit fertig war, kamen meine Frau und meine Kinder mit dem schon vorgerichteten Reisegepäck. Adieu noch und fort ging es, zunächst zu den Akademie-Kartellsitzungen nach Leipzig, welche am nächsten Tag 10 Uhr vormittags begannen. Ich machte mich im Zug noch möglichst rein, setzte mich nach Ankunft des Zuges in Leipzig sofort in eine Droschke und kam pünktlich zur Sitzung. (Anmerkung der Redaktion: Das Kartell bestand damals aus den Akademien der Wissenschaften in Wien, Göttingen, Leipzig und München; Berlin war – wie Boltzmann weiter unten kritisch bemerkt – noch nicht beigetreten.)

Ich ging zu diesen Kartellsitzungen nicht ohne Angst; denn es sollte ein Gegenstand zur Sprache kommen, der für mich sehr bitter werden konnte. Wird es den Leser langweilen, wenn ich ihn kurze Zeit in einer Werkstätte wissenschaftlicher Arbeit herumführe, um ihm die äußere Einrichtung zu zeigen und den Mechanismus etwas zu erklären; ich hoffe nicht. Heutzutage gibt es doch kaum einen Gebildeten, der nicht irgend eine größere, im Baedeker angeführte Eisenwaren- oder Leder- oder Glasfabrik gesehen hätte und ich finde die Befriedigung der Neugierde, wie die Gegenstände unseres täglichen Gebrauches in ihre uns so geläufige Form gebracht werden, ebenso unterhaltend als lehrreich. Warum sollte ich nicht auch einige Neugierde nach dem Mechanismus einer Fabrik voraussetzen, die, ich darf es wohl sagen, für die menschliche Kultur wichtiger ist, als die größte Lederfabrik, hoffentlich nicht lederner.

Vom Ziel des Akademie-Kartells eine Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften [3] herauszugeben

Mehrere deutsche Akademien und gelehrte Gesellschaften haben sich zusammengetan, um jährlich gemeinsame Sitzungen zu halten und dort Gegenstände von allgemeiner Wichtigkeit zu besprechen (siehe weiter oben; Anmerkung der Redaktion). Dies ist das Akademie-Kartell. Dasselbe beschloß vor Jahren die materielle Unterstützung eines großen Buchwerkes, der Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften.

Die Mathematik hat nämlich im vorigen Jahrhundert enorm an Umfang zugenommen; dabei hat jeder Autor seine besonderen Bezeichnungen und schreibt oft so schwer verständlich, daß nur die nächsten Fachgenossen mit größter Anstrengung folgen können. Doch ist in dieser schwer verständlichen, oft fast unauffindbaren, in der ganzen Welt zerstreuten mathematischen Literatur ungemein viel des Brauchbaren, auch für den Praktiker Nützlichen, ja fast Unentbehrlichen, vergraben.

Die wohlgeordnete Sammlung und möglichst leicht verständliche Darstellung alles dieses Materials ist nun die Aufgabe der besprochenen Enzyklopädie. Sie soll alles in der Mathematik geleistete für den Mathematiker leicht auffindbar machen und zugleich die Brücke zur Praxis bauen, also dem Praktiker die Mathematik, dem Mathematiker die Praxis näherrücken. Das Bedürfnis nach einer solchen enzyklopädischen Zusammenfassung der mathematischen Literatur springt so in die Augen, daß Professor Klein [4] in Göttingen sie als mathematische Bedürfnisanstalt bezeichnet hat. Ein solches Unternehmen wäre nicht so enorm schwierig, wenn es sich nur darum handelte, die hervorstechendsten Leistungen ohne allzu genaue Kritik anzuführen und das Allerwichtigste, natürlich aber auch Allerbekannteste, zu registrieren. Wenn man aber auf allen Gebieten alles wirklich Nützliche aus dem Verborgenen hervorziehen, alles Unwesentliche ausscheiden, möglichste Vollständigkeit in der Literaturangabe erzielen und dabei alles in übersichtlicher, für den Gebrauch des Lesers bequemer Form darstellen will, so erscheinen die Schwierigkeiten für jeden, der nur einigermaßen in die mathematische Literatur hineingeguckt hat, fast erschreckend. Den schon genannten Professor Klein lockte dies an, die Akademien geben Geld für die Druckkosten, die Autorenhonorare und Reisediäten, Klein und sein wissenschaftlicher Stab besorgen die Arbeit.

Von den Mühen Professor Kleins weltweit renommierteste Wissenschafter als Autoren zu rekrutieren

Da gilt es für jedes Spezialgebiet unter allen Nationen des Erdballes denjenigen herauszufinden, der es am besten beherrscht. In der Tat arbeiten Deutsche und Franzosen, Russen und Japaner in Eintracht mit. Der Ausgewählte ist nun oft ein großer Herr, der genug Geld und wenig Zeit, vielleicht auch nicht allzuviel Arbeitslust, aber desto mehr Eigensinn hat. Er muß erstens bewogen werden, daß er einen Beitrag verspricht; dann belehrt und mit allen Mitteln der Überredungskunst dazu vermocht werden, daß er den Beitrag so abfaßt, wie er in den Rahmen des Ganzen paßt und last not least, daß er sein Versprechen auch rechtzeitig hält.

Die Beratungen, ob man einen Artikel, der sich besser später einreihen würde, schon jetzt bringen soll, weil man ihn eben schon hat und die, welche man vorausgehen lassen wollte, noch fehlen, nehmen Stunden in Anspruch. Reisen Kleins selbst und seiner Apostel nach allen Ländern der Welt werden nicht gespart, um den Artikelschuldigen mit der Wucht der persönlichen Rücksprache nicht zu verschonen. Eine Lücke blieb lange offen, weil der dafür Erkorene, ein mathematisch gebildeter russischer Offizier in Port Arthur eingeschlossen war. Ich habe solche Enzyklopädiesitzungen schon oft mitgemacht, von ihrer dramatischen Bewegtheit könnten die deutschen Bühnendichter profitieren.

Nun zu mir zurück. Schon als mir Klein einen Enzyklopädieartikel auftrug, weigerte ich mich lange. Endlich schrieb er mir: „Wenn Sie ihn nicht machen, übergebe ich ihn dem Zermelo [5]“. Dieser vertritt gerade die der meinen diametral entgegengesetzte Ansicht. Die sollte doch nicht in der Enzyklopädie die tonangebende werden, daher antwortete ich umgehend: „Ehe der Pestalutz es macht, mache ichs.“ (Sämtliche Zitate, meist aus Schiller zur Nachfeier des Schillerjahres, sind mit Anführungszeichen versehen; man weise sie nach!)

Jetzt aber ist die Zeit, wo mein Artikel fällig wird. Ich hätte gern mich im September von den Reisestrapazen auf dem Lande erholt, aber ich habe mein Wort gegeben, muß also im September in der Literatur wühlen und mit einer kleinen Kohorte Wiener Physiker zusammen, den Artikel fertigstellen. ”Ewigkeit geschworenen Eiden.“

Ähnlich scheint es auch Professor Wirtinger [6] ergangen zu sein; denn als Emblem der Enzyklopädie zeichnete er eine Mausefalle; der Speck lockt und der Professor ist gefangen.

Vom Idealismus der Autoren

Was aber reizt zu dem ganzen Werke so unwiderstehlich? Besonderer Ruhm ist dabei nicht zu holen, mit Ausnahme dessen, etwas Nützliches geleistet zu haben; vom Gelde rede ich gar nicht. Was veranlaßt Klein mit einer psychologischen Kenntnis, um die ihn die Philosophen beneiden könnten, bei jedem, den er auf dem Korn hat, gerade den wunden Punkt zu treffen, wo er überredungsfähig ist? Doch nur der Idealismus, und tun wir die Augen auf, Idealismus finden wir überall bis an das stille Meer. Dort (auf dem Gipfel des Mount Hamilton, nahe der Stadt San Jose, Kalifornien; Anmerkung der Redaktion) grüßen uns zwei weiße dicke Türme, die Licksternwarte, das Werk eines Idealisten und hundertfachen Millionärs…. Ich habe lange überlegt, was merkwürdiger ist, daß in Amerika Millionäre Idealisten, oder daß Idealisten Millionäre sind. Glücklich das Land, wo Millionäre ideal denken und Idealisten Millionäre werden!…

Der Idealismus Kleins und seiner Mitarbeiter trug gute Früchte. Schon nach dem Erscheinen der ersten Hefte mußte die Auflage vermehrt werden; eine französische Übersetzung ist angefangen, eine englische wird bald folgen. Die Akademien haben einen guten Griff und der Buchhändler hat ein gutes Geschäft gemacht.

Kritisches zur Berliner Akademie der Wissenschaften

Die Berliner Akademie der Wissenschaften gehört leider dem Kartell nicht an und beteiligt sich gar nicht an der Sache. Sie war auch auf dem Meteorologenkongreß zu Southport und auf dem Sonnenforschungskongresse in St.Louis gar nicht vertreten. Ich fürchte, durch dieses Prinzip, an allem, was sie nicht selbst angefangen hat, sich nicht zu beteiligen, wird sie mehr noch als die Wissenschaft, sich selbst und Deutschland schädigen. Mich ärgerte es, als in Southport und St. Louis unter den foreigners (Nichtengländern) überall die Franzosen den ersten Platz erhielten. Wir Deutsche hätten es wahrlich nicht nötig, ihnen nachzustehen! Aber was vermochte ich als Österreicher? Wenn bei den Meteorologen noch Hann [7] da gewesen wäre, den alle so vermißten! Aber der ist wieder nicht zum Reisen zu bewegen!

Wenn ich schon ins Plaudern komme, dann lasse ich meiner Zunge völlig freien Lauf. So verschweige ich auch nicht, daß ein amerikanischer Kollege überhaupt von einem Rückgang Berlins sprach. In der Tat gingen unter Weierstraß, Kronecker, Kummer, Helmholtz, Kirchhoff die amerikanischen Mathematiker und Physiker meist nach Berlin studieren, jetzt bevorzugen sie Cambridge und Paris. Dadurch, daß es weniger mehr von den Deutschen lernt, geht wieder Amerika und mit ihm die Welt zurück. Jener Kollege behauptete auch, es wäre manches besser geworden, wenn ich den Ruf nach Berlin nicht abgelehnt hätte. Gewiß am wenigsten durch meine Vorträge; aber ein einziger kann, wenn er mit Kleins Idealismus und Kleins Unverfrorenheit wirkt, bei Berufungsfragen und bei Neuschöpfungen ganz bedeutend ins Gewicht fallen.

Mancher, der nicht zu haben war, wäre doch zu haben gewesen, wenn man ihn richtig gewollt hätte. Ein kleines Rädchen, das an der richtigen Stelle immer richtig arbeitet, kann viel leisten.“


[1] Ludwig E. Boltzmann ] (1844 – 1906) war Professor für Physik und Mathematik an den Universitäten Graz, Leipzig, München und Wien. Seine Arbeiten waren bahnbrechend für die weitere Entwicklung von Physik und physikalischer Chemie. Zu einer Zeit als die Existenz von Atomen noch nicht bewiesen war, hat er Wärmegesetze aus der statistischen Bewegung von Molekülen hergeleitet (kinetische Gastheorie) und, daß Systeme aus einem Zustand höherer Ordnung in einen ungeordneteren übergehen; als ein Maß für die Unordnung hat Boltzmann den Begriff „Entropie“ definiert (Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Eine von der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik initiierte Ausstellung anläßlich des 100. Todestages von Ludwig Boltzmann ist online abrufbar und bietet eine umfassende, illustrierte, Darstellung seines Lebens und Wirkens (http://www.zbp.univie.ac.at/webausstellung/boltzmann/flash/boltzmann.htm)

[2] „Reise eines deutschen Professors ins Eldorado”: Dieser und andere Essays aus den 1905 veröffentlichten „Populären Schriften“ von Ludwig Boltzmann sind sehr lesenswert. Die “Populären Schriften” wurden kürzlich digitalisiert („by Google from the library of Harvard University and uploaded to the Internet Archive”): http://archive.org/details/populreschrifte00boltgoog (free download)

[3] „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen“ Monumentalwerk das von 1904 bis 1935 erschien (B.G. Teubner Verlag, Leipzig). Unter der Koordination von Felix Klein lieferten international führende Mathematiker und Physiker Übersichtsartikel und auch eigene Forschungsbeiträge, die Klassiker einzelner Fachrichtungen darstellen. Die einzelnen Bände wurden vom Göttinger Digitalisierungszentrum digitalisiert und sind abrufbar unter: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/toc/?PPN=PPN360504019 (free download)

[4] Felix Christian Klein (1849 – 1925) berühmter deutscher Mathematiker (Gruppen-Theorie, Nicht-Euklidische Geometrie) und Wissenschaftsorganisator. Er machte Göttingen zu einem der weltweit wichtigsten Zentren für (angewandte) Mathematik und Naturwissenschaften. Für die „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen“ (s.o.) gelang es Klein die renommiertesten Autoren zu rekrutieren.

[5] Ernst Friedrich Ferdinand Zermelo (1871 – 1953) berühmter deutscher Mathematiker (Mengenlehre), Schüler von Max Planck. Kontrahent von Ludwig Boltzmann, da er in dessen „zweitem Hauptsatz der Thermodynamik“ einen Widerspruch zum „Poincare’schen Wiederkehrsatz“ sah.

[6] Wilhelm Wirtinger (1865 – 1945), prominenter österreichischer Mathematiker aus der schule von Felix Klein und Professor in Innsbruck und Wien. Zu Wirtingers Schülern gehören u.a.: Kurt Gödel, Johann Radon und Leopold Vietoris.

[7] Julius von Hann (1839 – 1921), Begründer der modernen Meteorologie, Professor in Wien und Graz, Direktor der ZAMG (Wien). Er veranlaßte den Bau des Sonnblick-Observatoriums und der Hann-Warte auf dem Hochobir.

Bring vor, was wahr ist;

schreib so, dass es klar ist.

Wahlspruch Ludwig Boltzmanns