Der Wiener Kreis – eine wissenschaftliche Weltauffassung

Fr, 29.05.2015 - 07:22 — Karl Sigmund

Karl SigmundIcon WissenschaftsgeschichteIm Wien der Zwischenkriegszeit bildete sich ein interdisziplinärer Zirkel aus namhaften Mathematikern, Naturwissenschaftern und Philosophen, deren zentrales Thema eine rational-empirisch geprägte, antimetaphysische Weltsicht war. Dieser „Wiener Kreis“ hatte massiven Einfluss auf das Geistesleben und die Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts und legte ebenso den Grundstein für neue Forschungsbereiche, vor allem in der Mathematik und Informatik. Zum „Wiener Kreis“ findet im Rahmen des 650-Jahre Jubiläums der Universität Wien eine Ausstellung statt [1]. Kurator dieser Ausstellung ist der Mathematiker Karl Sigmund, der sich seit seiner Jugendzeit mit dem Wiener Kreis beschäftigt und darüber ein Buch „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“ verfasst hat [2]. Aus diesem, eben erschienenen Buch hat er freundlicherweise den nachfolgenden Artikel dem ScienceBlog zur Verfügung gestellt.

Im Jahr 1924 gründen ein Philosoph, Moritz Schlick, ein Mathematiker, Hans Hahn, und ein Sozialreformer, Otto Neurath, einen philosophischen Zirkel in Wien. Moritz Schlick und Hans Hahn sind Professoren an der Universität Wien, Otto Neurath Direktor des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums.

Ab 1924 trifft sich der Zirkel regelmäßig an Donnerstagabenden in einem kleinen Hörsaal in der Boltzmanngasse (Mathematisches Seminar, Universität Wien), um philosophische Fragen zu diskutieren:

Wodurch zeichnet sich wissenschaftliche Erkenntnis aus?

Haben metaphysische Aussagen einen Sinn?

Worauf beruht die Gewissheit von logischen Sätzen?

Wie ist die Anwendbarkeit der Mathematik zu erklären?

„Die wissenschaftliche Weltauffassung“, so verkündet das Manifest des Wiener Kreises, „ist nicht so sehr durch eigene Thesen charakterisiert, als vielmehr durch die grundsätzliche Einstellung, die Gesichtspunkte, die Forschungsrichtung.“ (Abbildung 1)

Der Wiener Kreis erstmals im DruckAbbildung 1. Der Wiener Kreis erstmals im Druck Der Zirkel will wissenschaftlich philosophieren, ohne Gerede von unergründlicher Tiefe und bedeutungsschwangerer Weltabgewandtheit:

„In der Wissenschaft gibt es keine ‚Tiefen‘: Überall ist Oberfläche: Alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen fassbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge.“

Der Wiener Kreis steht in der Tradition von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, zwei Physikern, die um die Jahrhundertwende an der Universität Wien Philosophie gelehrt haben. Vorbilder des Wiener Kreises sind der Physiker Albert Einstein, der Mathematiker David Hilbert und der Philosoph Bertrand Russell.

Bald werden die Diskussionen des Wiener Kreises durch den kurz zuvor erschienenen Tractatus logico-philosophicus dominiert, ein Büchlein, das Ludwig Wittgenstein während des Ersten Weltkriegs als Frontoffizier geschrieben hat. Wittgenstein hat sich nach dem Krieg von seinem riesigen Erbe getrennt und lebt als Volksschullehrer in Niederösterreich. Durch die Gespräche mit ausgewählten Mitgliedern des Wiener Kreises kehrt er allmählich wieder zur Philosophie zurück.

Aus dem Vorwort des Tractatus logico-philosophicusAbbildung 2. Aus dem Vorwort des Tractatus logico-philosophicus Mit angestaubten philosophischen Lehrmeinungen will der Wiener Kreis nichts zu tun haben:

„Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, dass sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen besteht die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht aber in der Aufstellung eigener ‚philosophischer‘ Aussagen.“

Zum Wiener Kreis stößt glänzender Nachwuchs, wie etwa der Philosoph Rudolf Carnap, der Mathematiker Karl Menger oder der Logiker Kurt Gödel, der das Grenzgebiet zwischen Mathematik und Philosophie entscheidend prägen wird. Auch Karl Popper ist eng mit dem Wiener Kreis verbunden, obwohl er nie zu den Sitzungen eingeladen wird. (Abbildung 3).

Der Wiener Kreis steht in der Tradition von Ernst Mach und Ludwig BoltzmannAbbildung 3. Der Wiener Kreis steht in der Tradition von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann

Rasch wird der Zirkel zur Hochburg des Logischen Empirismus. Führende Köpfe in Prag, Berlin, Warschau, Cambridge und Harvard greifen die Themen auf. Ab 1929 tritt der Zirkel an die Öffentlichkeit, über eigene Zeitschriften, Tagungen, Bücher und Vorlesungsreihen. Am Beginn dieser Phase steht ein Manifest:

Die Wissenschaftliche Weltauffassung (Abbildung 1) ist kein Gründungsdokument – den Schlick-Zirkel gibt es bereits seit fünf Jahren –, aber so etwas wie ein Taufschein. Der von Neurath vorgeschlagene Name „Wiener Kreis“ ist neu. Er soll positive Assoziationen wecken (wie „Wiener Wald“ oder „Wiener Walzer“). Die Schrift dient als Manifest, nicht nur für eine philosophische Schule, sondern für eine gesellschaftspolitische Ausrichtung. “Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.“

Die Verfasser des Manifests gehören zum linken Flügel der Gruppe und machen kein Hehl aus ihrer Absicht, die Gesellschaft zu reformieren. Der von Mitgliedern des Wiener Kreises im Jahr 1928 gegründete Verein Ernst Mach widmet sich der „Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung“ und engagiert sich an der Seite des sozialdemokratischen Roten Wien im politischen Kampf um die Stadt, besonders im Bildungs- und Siedlungsbereich.

Rasch werden der Wiener Kreis und der Verein Ernst Mach zum roten Tuch für die antisemitischen und reaktionären Strömungen an der Universität Wien. Das politische Umfeld wird zunehmend feindselig. In dieser zweiten, öffentlichen Phase kommt es zur schrittweisen Auflösung des Wiener Kreises.

Carnap zieht als Professor nach Prag, Wittgenstein nach Cambridge. Neurath kann nach dem Bürgerkrieg von 1934 österreichischen Boden nicht mehr betreten. Hahn stirbt im selben Jahr unerwartet an den Folgen einer Krebsoperation. Gödel muss sich mehrfach in Nervenheilanstalten zurückziehen. Schlick wird 1936 im Hauptgebäude der Universität von einem ehemaligen Studenten erschossen. Menger und Popper emigrieren bald darauf, angewidert von der öffentlichen Stimmung. Die meisten Mitglieder des Wiener Kreises verlassen Wien, noch bevor es zu den sogenannten Säuberungen nach dem „Anschluss“ kommt. Als Nachzügler gelangt Gödel im Kriegsjahr 1940 über die Sowjetunion und Japan in die USA.

Emigration und Internationalisierung gehen Hand in Hand. Der inzwischen weltbekannte Wiener Kreis verliert seine Wiener Wurzeln.

In der Nachkriegszeit kann der Wiener Kreis in Wien nicht mehr Fuß fassen. Doch bleibt er weiter weltweit wirksam, und ist aus der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht wegzudenken. Er hat so diverse Fächer wie die analytische Philosophie, die formale Logik, die Quantenphysik und die Wirtschaftswissenschaften beeinflusst. So lassen sich etwa die Computeralgorithmen, die heute unser Leben bestimmen, in direkter Linie auf die Untersuchungen Kurt Gödels über Logik und Berechenbarkeit zurückführen; und die Symbole, die auf allen Flughäfen der Welt die Besucherströme lenken, leiten sich von Otto Neuraths Bildersprache her.

Mord und Selbstmord, Liebschaften und Nervenzusammenbrüche, politische Verfolgungen und Vertreibung haben alle ihren Platz in der schillernden Geschichte des Wiener Kreises, doch den roten Faden bilden die geistigen Auseinandersetzungen. Der Zirkel verwirklicht keineswegs das von einigen angestrebte „denkerische Kollektiv“. Die handelnden Personen verfolgen gemeinsame Ziele, doch ihre Beziehungen werden von leidenschaftlichen Kontroversen geprägt.

Karl Sigmund führt durch die AusstellungAbbildung 4. Karl Sigmund (im Vordergrund) führt durch die Ausstellung.

Am Anbeginn steht, an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, eine vielbeachtete Auseinandersetzung zwischen Mach und Boltzmann im Sitzungssaal der Wiener Akademie der Wissenschaften zur Frage: „Gibt es Atome?“

Am Ende steht, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, ein erbitterter Streit zwischen Popper und Wittgenstein bei einem Kamingespräch in Cambridge um die Frage: „Gibt es philosophische Probleme?“

Im knappen halben Jahrhundert zwischen diesen beiden Disputen spielt Wien in der Philosophie eine ähnliche richtungsweisende Rolle, wie einst in der Musik; und in diesem goldenen Zeitalter der österreichischen Philosophie nimmt der Wiener Kreis eine zentrale Stellung ein.


[1] Im Zusammenhang mit den Feiern zum 650-Jahre-Jubiläum findet im Hauptgebäude der Universität Wien von Mitte Mai bis Ende Oktober 2015 die zweisprachige Ausstellung (dt./engl.) „Der Wiener Kreis“ statt. Kuratoren sind der Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler und der Mathematiker Karl Sigmund (Abbildung 4). https://www.univie.ac.at/AusstellungWienerKreis/

[2] Karl Sigmund, Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs. Wiesbaden: SpringerSpektrum 2015. ISBN 978-658-08534-6 http://mlwrx.com/sys/w.aspx?sub=dAvsT_2A6MTL&mid=8d03ba11