Der Dunklen Materie auf der Spur

Fr, 17.06.2016 - 12:58 — Josef Pradler

Josef PradlerIcon PhysikZu den prioritären Zielsetzungen der modernen Teilchenphysik zählt die Entschlüsselung der sogenannten Dunklen Materie, welche die dominierende Form der Materie im Universum darstellt. Bis jetzt konnte Dunkle Materie noch nicht direkt detektiert werden, ihre mikrophysikalischen Eigenschaften sind weitgehend unbekannt. Der Teilchenphysiker Josef Pradler (Juniorforschungsgruppenleiter am Institut für Hochenergiephysik - HEPHY - der ÖAW) entwickelt Modelle zur Dunklen Materie und überprüft diese auf ihre Konsistenz mit experimentellen Daten, die mittels hochsensitiver Detektoren und auch mittels hochenergetischer Kollisionen von Protonen (am Large Hadron Collider des CERN) erhalten werden.*

Scherzend meinte noch der sowjetische Physiker Lev Landau (1908-1968) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: “Kosmologen sind oft im Irrtum, aber nie im Zweifel.” Auch wenn die Arbeiten Landaus zu den großen Errungenschaften der theoretischen Physik zählen und seine Buchserie dazu beinahe biblisch verehrt wird, hat sich das von ihm gezeichnete Bild praktizierender Kosmologen grundlegend überholt. Der Urknall, einst Hypothese philosophischer Natur, ist heute Faktum der Wissenschaft.

Das Universum dehnt sich aus

Zwei Entdeckungen des letzten Jahrhunderts die Kosmologie betreffend werden wohl für immer zu den bemerkenswertesten der Menschheit zählen dürfen.

Die erste Entdeckung der späten 1920er Jahre, dass sich das Universum ausdehnt, ist heute weithin bekannt. Im Umkehrschluss folgt daraus allerdings, dass der Kosmos sich einst in einem Zustand extremer Dichte und Temperatur befunden haben musste. Selbst wenn es noch keine gesicherte Theorie zum “wie” des Ursprungs gibt, sehen wir den Beweis dafür heute in der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung; bildlich gesprochen: das Nachglühen des Urknalls (Abbildung 1).

Die zweite Entdeckung wurde erst 1998 gemacht: der Kosmos dehnt sich nicht nur aus, in jüngster kosmischer Vergangenheit tut er das sogar in beschleunigter Weise (Saul Perlmutter, Adam Riess, Brian Schmidt erhielten dafür 2011 den Nobelpreis).

Abbildung 1. Nachglühen des Urknalls: das Licht der kosmischen Hintergrundstrahlung, aufgenommen durch den Planck-Satelliten. Es war 13.7 Milliarden Jahre unterwegs zur Erde. Die hellen und dunklen Bereiche zeigen in mehr als 10.000-facher Kontrastverstärkung die winzigen Dichte-Schwankungen aus der mit Hilfe Dunkler Materie alle Struktur im Universum entstand: die Sterne und Galaxien von heute. (Quelle: http://www.esa.int/spaceinimages/Images/2013/03/Planck_and_the_cosmic_microwave_background )

Das Universum steckt also voller Dynamik - nicht nur was Sterne und Galaxien betrifft, sondern auch auf den größten beobachtbaren Skalen. Diese Dynamik unterliegt zunächst Einstein’s Allgemeiner Relativitätstheorie. Aus ihr lässt sich die Expansionsrate des Kosmos als Funktion des in ihm befindlichen Energie- und Materiegehalts ableiten. Aus der Beobachtung der kosmischen Hintergrundstrahlung ergibt sich folgende einfache Rezeptur:

5% Atome, 26% dunkle Materie, und 69% dunkle Energie.

Die fehlende Masse

Betrachten wir nur den Materiegehalt des Universums, schließen wir also, dass 84% (das relative Verhältnis von dunkler zu normaler Materie) nicht verstanden sind. Das Problem der Dunklen Materie ist also ein Problem der fehlenden Masse.

Dieses Problem manifestiert sich nicht nur in den Präzisionsmessungen der kosmischen Hintergrundstrahlung, sondern setzt sich auf praktisch allen astronomischen Beobachtungen jenseits unseres Sonnensystems fort. Die ersten Hinweise auf dunkle Materie finden sich bereits seit den 1930er Jahren in den Beobachtungen der Bewegungen von Galaxien in Galaxienhaufen und wurden in den 1970er Jahren durch die Messung von Rotationsgeschwindigkeiten von Spiralgalaxien wie unserer eigenen Milchstraße verschärft. Das Phänomen Dunkle Materie ist also seit über 80 Jahren bekannt.

Man könnte zunächst vermuten, dass Dunkle Materie aus noch unentdeckten astronomischen Objekten, wie braunen Zwergen oder schwarzen Löchern besteht. Solche Objekte würden sich allerdings gelegentlich, während ihres Transits vor Sternen am Himmel, zeigen, ganz so, wie man heutzutage tatsächlich Planeten in fernen Sonnensystemen entdeckt. Sogenannte “microlensing” Beobachtungen schliessen mittlerweile die Möglichkeit aus, dass Dunkle Materie aus solchen makroskopischen Objekten besteht. Eine zweite Möglichkeit ist, dass die Gravitation selbst auf astronomischen Skalen anderen Gesetzen unterliegt, als wir sie auf der Erde und im Sonnensystem beobachten. Während eine (sehr schwache) Modifikation in der Tat theoretisch bestehen könnte, kann man heute eine hinlänglich stark modifizierte Gravitationstheorie als Ursprung für das augenscheinliche Phänomen der fehlenden Masse mit ziemlicher Sicherheit ausschliessen.

Die einzige überzeugende Lösung des Problems der fehlenden Masse liegt in der Form einer oder mehrerer noch unentdeckter Teilchenart(en). Trotz der Vielzahl astronomischer Beobachtungen sind uns - bis dato - die konkreten mikroskopischen, teilchenphysikalischen Eigenschaften weitgehend unbekannt. Wir können mit Bestimmtheit sagen, dass Dunkle Materie, wenn überhaupt, nur sehr schwach elektromagnetisch wechselwirkt—ansonsten würde sie Licht aussenden, wir hätten sie bereits beobachtet, und sie wäre nicht “dunkel”. In der Tat gibt es aber guten Grund zur Annahme, dass dieser uns noch verborgene Sektor mit “uns”, dem sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik, wechselwirkt. Dieser Grund ist u.A. kosmologisch motiviert.

Das 1:5 Verhältnis aus beobachtbarer und dunkler Materie kann ein Zufall sein, jedoch darf man durchaus hoffen, dass beide Komponenten mehr verbindet. Das Verhältnis könnte ohne weiteres um Größenordnungen verschieden sein. Dass es jedoch im scheinbar engen Verhältnis steht, deutet darauf hin, dass dunkle und normale Materie im frühen, heißen Universum im engen Wechselspiel agiert haben. Die Wechselwirkung beider Sektoren impliziert, dass selbst, wenn man mit einem Universum ohne Dunkle Materie beginnt, diese sich durch Kollisionen von Standardmodellteilchen wie von selbst erzeugt (et vice versa). Man sagt: beide Sektoren kommen ins thermodynamische Gleichgewicht. Theoretische Teilchenphysiker haben in so einer Situation attraktive Szenarien entwickelt, die anschließend jenes 5:1 Verhältnis dynamisch in der weiteren Ausdehnung und Abkühlung des Universums erklären. Die Modelle beruhen auf Teilchensorten mit einer Masse eines Vielfachen der Masse von Wasserstoff (z.B. genau einen Faktor 5, aber auch ein bis zu tausendfaches davon).

Die Erwartungshaltung der Theoretiker zur Masse und nicht-gravitativen Wechselwirkung der Dunklen Materie-Teilchen lässt gleichzeitig das Herz der experimentellen Teilchenphysiker höher schlagen. Es eröffnet nämlich die Möglichkeit zum experimentellen Nachweis im Labor und damit zum Test dieses Paradigmas und damit zur Entschlüsselung eines der akutesten ungelösten Fragestellungen der modernen Teilchenphysik.

Suche nach Dunkler Materie

Es gibt zwei prinzipielle Methoden, die die experimentelle Suche nach Dunkler Materie im Labor dominieren. An beiden ist das Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften aktiv beteiligt (www.hephy.at).

  • Erstere betrifft die sprichwörtliche Erzeugung Dunkler Materie am Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf. Man erhofft sich—ähnlich wie im frühen Universum—durch hochenergetische Kollisionen von Protonen Dunkle Materie in Paarproduktion zu erschaffen. Auch wenn Dunkle Materie-Teilchen nicht direkt beobachtet werden können und sie dem Detektor geisterartig "entfleuchen", liefern das augenscheinliche Energieungleichgewicht sowie die Beiprodukte in der Produktion genügend Information, um Rückschluss auf die Natur der erzeugten Teilchen zu ziehen. Die Suche nach Dunkler Materie am LHC bleibt eine der zentralen Aufgaben des Teilchenbeschleuniger-Programms am CERN.
  • Die zweite experimentelle Methode versucht, die Dunkle Materie-Teilchen, die unsere Galaxis wie eine homogene Wolke füllen (der sogenannten “Halo”), direkt zu beobachten. Aus der Bewegung von Sternen ums Zentrum der Milchstraße sowie einer Vielzahl anderer Beobachtungen können wir heute relativ genau auf die durchschnittliche lokale Massendichte Dunkler Materie zurück schließen. Pro Kubikzentimeter entspricht diese ca. einem Drittel der Masse eines Protons. Ist Dunkle Materie also so schwer wie ein Proton, ergibt sich damit ein Teilchenfluss von ungefähr zehn Millionen Teilchen pro Sekunde und Quadratzentimeter Oberfläche. Ständig werden wir—und unsere Detektoren—durchdrungen von einer Vielzahl von sehr schwach-wechselwirkenden Teilchen.

Der erwartete Teilchenfluss klingt zunächst dramatisch, ist es aber nicht: der lokale Fluss von Neutrinos, der als Beiprodukt nuklearer Kernreaktionen im Zentrum der Sonne entspringt, ist um ein tausendfaches größer. Tatsächlich hat es Jahrzehnte großen experimentellen Aufwandes bedurft, die schwache Wechselwirkung von Neutrinos zu kartographieren. (Anmerkung: Neutrinos wurden einst als Dunkle Materie-Kandidaten gehandelt, deren mittlerweile bekannte fast verschwindende Masse schließt dies jedoch aus.) Es verwundert also nicht, dass die direkte Suche nach Dunkler Materie eine experimentelle Herausforderung darstellt und hochsensitiver Detektoren bedarf. Konkret hält man bei der direkten Suche Ausschau nach Rückstoßstreuprozessen von Dunkler Materie an den Atomkernen des Detektors. Dieser Prozess ist extrem selten, und diese Experimente operieren daher in Untergrundlabors, abgeschirmt von kosmischer Strahlung. Das Institut für Hochenergiephysik ist mit dem CRESST -Experiment an der direkten Suche nach Dunkler Materie beteiligt (Abbildung 2).

Abbildung 2. Mit hochsensiblen Detektoren wie dem CRESST-Detektor ist man der galaktischen Dunklen Materie auf der Spur. Das Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften ist an dem Experiment beteiligt. http://www.cresst.de/pictures/img_1860.jpg

Heute wird in einer Vielzahl solcher direkter Detektionsexperimente nach der Dunklen Materie gesucht. Neben diesen und den Teilchenbeschleunigerexperimenten befindet sich ein drittes Fenster zur Natur der Dunklen Materie in der Astrophysik. Hier wird z.B. nach den Endprodukten von Dunkler Materie-Paarvernichtung (z.B. Gammastrahlung) in den Zentren von Galaxien gesucht. Beispielsweise zu nennen sind hier das Satellitenexperiment FERMI oder die H.E.S.S. Teleskope (mit Beteiligungen der Universität Innsbruck).

Modelle zur Dunklen Materie

Aufgabe der theoretischen Teilchenphysik ist es, Modelle zur Dunklen Materie zu entwickeln, die sich einerseits in die kosmologischen Messungen einreihen und sich andererseits im Experiment oder in astrophysikalischen Beobachtungen überprüfen lassen. Theoretiker treffen Vorhersagen für die oben angesprochenen Experimente, verbinden die verschiedenen Stoßrichtungen oder arbeiten deren Komplementarität heraus, bzw. suchen nach völlig neuen Signaturen und Nachweismöglichkeiten. Selbst wenn es keine Garantie dafür gibt, dass Dunkle Materie mit unserem Sektor in nicht-gravitativer Wechselwirkung steht (die Voraussetzung für einen direkten Nachweis), so gibt es doch starke theoretische Argumente dafür, dass diese durchaus signifikant sein kann.

Die Erwartungshaltung der Experten im Feld geht sogar soweit, dass man sich ein definitives Signal in den nächsten zwei Dekaden erhofft. Die Erwartung gründet u.a. auf einer Erklärung der möglichen Entstehungsgeschichte der Dunklen Materie im frühen Universum, auf einer möglichen Auflösung einer noch unverstandenen Hierarchie zwischen fundamentalen in der Natur beobachteten Massenskalen (siehe z. Bsp. “Hierarchieproblem” und/oder “Supersymmetrie”) und nicht zuletzt auf dem signifikanten experimentellen Fortschritt seit den frühen 1990er Jahren, in denen man erstmals begann, die Suche systematisch voranzutreiben.

Outlook

Das theoretische Spektrum an Möglichkeiten zur Teilchennatur der Dunklen Materie ist breit. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Lösung dieses Jahrhundert-Problems der fehlenden Masse im tiefen Zusammenhang zwischen Astrophysik, Kosmologie und fundamentaler Teilchenphysik zu finden ist. In der Grundlagenforschung gibt es keine Garantien, aber die Entschlüsselung der mikrophysikalischen Eigenschaften dunkler Materie wäre ein Erkenntnisgewinn von monumentaler Signifikanz.

Sie ist nicht zuletzt die im Universum alles dominierende Form der Materie und damit u.a. verantwortlich dafür, dass Sterne, Galaxien, und vielleicht damit das Leben selbst im Universum überhaupt erst entstehen kann. Einhergehend mit den technologischen Entwicklungen, die die experimentellen Suchen abwerfen, wäre ein besseres Verständnis des uns noch verborgenen Sektors nicht zuletzt ganz einfach und ergreifend: ein Kulturgut.

Eine Analogie sei hier zum Schluss noch angebracht: vor 100 Jahren hatte Einstein das Phänomen der Gravitationswellen vorhergesagt. Der direkte Nachweis gelang schließlich im Februar, nach 40 Jahren experimenteller Suche. Das Higgs-Boson wurde 1964 vorhergesagt. Gefunden wurde es fast 50 Jahre später 2012 am CERN. Die experimentelle Suche nach Dunkler Materie ist kaum zwei Dekaden alt und könnte - so die Hoffnung - ein im Vergleich kurzweiliges Unterfangen bleiben.


* Der Beitrag ist in Zusammenarbeit mit dem Hochenergiephysiker Doz. Dr. Wolfgang Lucha entstanden. Lucha leitet am Institut für Hochenergiephysik - HEPHY - der ÖAW eine Forschungsgruppe, die sich der Beschreibung der starken Wechselwirkung widmet, d.i. der Kräfte die Quarks und Gluonen zu Protonen und Neutronen und schließlich zu Atomkernen verbinden.


Weiterführende Links

Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (HEPHY) http://www.hephy.at/

HEPHY-Broschüre: wir gehen Teilchen auf den Grund. http://www.unserebroschuere.at/hephy/MailView/

CRESST - Die Suche nach der Dunklen Materie. Video 5:38 min. Was habe ich davon? Spinoffs der Teilchenphysik. Video: 3:57 min.