Molekularbiologie im 21. Jahrhundert

Fr, 12.03.2020 — Peter Schuster Peter SchusterIcon Molekularbiologie

Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl sequenzierter Genome aus unterschiedlichsten Organismen enorm rasch angestiegen, und es wurde bald klar, dass niedere Organismen (Prokaryoten) zwar denselben genetischen Code wie höhere Organismen (Eukaryoten) nutzen, dass aber in der Verwaltung und Verarbeitung der Genome grundlegende regulatorische Differenzen bestehen. Dazu können sich Eukaryoten auch eines erweiterten Repertoires der Vererbung - mittels epigenetischer Modifikationen - bedienen, wobei die RNA eine tragende Rolle spielt. Das dynamische Zusammenwirken von Chemie und Biologie konnte die zugrundeliegenden Mechanismen klären und wird - wie der theoretische Chemiker Peter Schuster (emer. Univ Prof an der Universität Wien) meint - auch weiterhin der Molekularbiologie faszinierende Erfolge garantieren. *

Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war geprägt durch die grandiosen Erfolge der Molekularbiologie, die dann schlussendlich in der Sequenzierung des menschlichen Genoms gipfelte. Für die grundlegenden zellulären Prozesse hat die Chemie mit ihrer molekularen Sichtweise Erklärungen bereitgestellt.

Manche Wissenschaftler gewannen so den Eindruck, dass damit auch der Großteil der Biologie verstanden wäre.

Die bevorzugten Untersuchungsobjekte der Molekularbiologie des 20. Jahrhunderts waren überwiegend Prokaryoten - insbesondere Bakterien - gewesen und Viren. Es ist daher auch nicht falsch anzunehmen, dass die Biologie dieser einfachen Organismen im Wesentlichen bekannt und verstanden ist. Aus der Tatsache, dass auch alle höheren Organismen (= Eukaryoten) denselben genetischen Code benützen und ganz ähnlich aufgebaute Ribosomen verwenden, konnte man versucht sein zu schließen, dass auch die übrigen Prozesse in der Eukaryotenzelle denen der Bakterien entsprechen würden.

Eukaryoten sind keine Riesenbakterien…

Die breiten Sequenzierungen unterschiedlicher Genome brachten dann aber große Überraschungen: sie zeigten, dass Pilze, Pflanzen und Tiere inklusive Menschen auch hinsichtlich ihrer Genetik keine Riesenbakterien sind.

Bereits eine einfache quantitative Überlegung weist auf grundlegende regulatorische Differenzen in der Genetik von Viren, Prokaryoten und Eukaryoten hin.

…die DNA kodiert zum Großteil nicht für Proteine…

Dies zeigt der Vergleich der Zahl von Genen, die tatsächlich für Proteine kodieren (Gene) mit einer geschätzten maximalen Zahl der auf dem Genom Platz findenden möglichen Protein-kodierenden Gene (GMax), wobei eine mittlere Genlänge von 1000 Nukleotiden angenommen wird; die folgende Tabelle vergleicht die Zahlen der Gene für Viren (hellgrau), Prokaryoten (beige) und Eukaryoten (bunt).

Tabelle: Zahl der tatsächlich Protein kodierenden Gene verglichen mit der Zahl der maximal möglichen Protein-kodierenden Gene (GMax) in Viren, Bakterien und Eukaryoten. (Daten: Ron Milo & Rob Phillips (2016) Cell Biology by the Numbers. Garland Science, Taylor & Francis. New York)

Der Quotient aus den beiden Zahlen, Gene/GMax, ist einsichtigerweise kleiner als eins. Eine Ausnahme bildet nur der Bakteriophage λ, welcher überlappende Gene aufweist. Dies bedeutet das einzelne DNA-Stücke gleichzeitig für zwei (oder mehrere) Proteine kodieren. Dieser Quotient ist bei Viren recht variabel, bei Prokaryoten sehr nahe an eins und bei Eukaryoten kleiner als eins. Dabei ist ein klarer Trend zu erkennen: je komplexer der Organismus, desto niedriger wird der Quotient, d.i. umso weniger Teile des Genoms kodieren für Proteine.

John Mattick ist ein australischer Molekularbiologe, der versucht die Funktionen nicht-kodierender DNA zu entschlüsseln. Er hat die Zahl der Gene untersucht, die in Prokaryoten für Regulatorproteine kodieren und herausgefunden, dass diese Zahl mit dem Quadrat der Gesamtzahl der Gene ansteigt [1]. In anderen Worten heißt dies, dass der Prozentsatz der Gene, welche für die Regulation benötigt werden, mit steigender Genomlänge immer größer wird. Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Bakterien eine bestimmte Genomgröße - im Bereich von 10 Millionen Basenpaaren, entsprechend 10 000 Genen - nicht überschreiten können, da sonst die Regulation der Genaktivitäten zu aufwendig werden würde.

…und liegt in enorm kompakter Form im Zellkern vor

In ausgestreckter Form ist die DNA viel länger als der Durchmesser der Zelle, in welcher sie sich befindet. Durch Supercoil wird die DNA in eine kompaktere Form überführt. Supercoil ist die Methode der Kompaktifizierung der DNA bei Prokaryoten. Für die bei höheren Organismen sehr viel größeren eukaryotischen Genome reicht jedoch der Supercoil bei weitem nicht aus, um eine kompakte, in die Zelle passende Form zu erzeugen. In der Tat umfasst der Prozess von der DNA bis zum fertigen Chromosom mehrere Schritte, in welcher die DNA auf Histonen aufgewickelt, zum Chromatin und weiter zu Nukleosomen gepackt, und schließlich in mehreren Schritten zu einem Chromosom kondensiert wird. Es ist verständlich, dass die Expression eines Genes durch diese Packung sehr viel komplizierter wird und viele Schritte umfassen muss. Abbildung 1.

Abbildung 1.Die Kompaktifizierung der DNA in der Zelle von Prokaryoten (links) und von Eukaryoten (rechts: http://csma31.csm.jmu.edu/chemistry/faculty/mohler/chromatin.htm; cc-by license)

Epigenetik - neue Funktionen für die RNA

Seit der Entdeckung, dass nicht nur Proteine sondern auch RNA-Moleküle als Katalysatoren wirken können,, wurde schrittweise erkannt, dass die RNA im zellulären Geschehen eine viel wichtigere Rolle spielt als ursprünglich angenommen. In der Tat kodiert nur ein verschwindend kleiner Teil des menschlichen Genoms, nach dem heutigen Wissensstand 1.5 %, für Proteine aber vom Rest der DNA werden über 90 % auch transkribiert. Welche Aufgaben die so transkribierten RNA-Moleküle erfüllen ist nur zu einem geringen Teil bekannt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass nicht kodierende RNA wichtige Funktionen hat und für molekulare Überraschungen durch Entdeckungen ist in diesem Zusammenhang gesorgt [2]. Schon bekannt und einigermaßen gut untersucht sind einige Mechanismen der epigenetischen Vererbung. Der Begriff der Epigenetik ist noch nicht sehr präzise aber eine gute Arbeitshypothese könnte die folgende Definition darstellen:

„Der Begriff Epigenetik definiert alle meiotisch und mitotisch vererbbaren Veränderungen der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst codiert sind." [3]

Die Epigenetik wirkt auf die Genexpression und das Expressionsmuster kann teilweise von einer Generation an die Folgegenerationen weitergegeben werden. Abbildung 2.

Abbildung 2. Die vererbbare Schaltung von Genen durch RNA-Interferenz, DNA-Methylierung und Histon-Modifizierung. Chemische Modifizierung der Histone - Methylierung, Acetylierung, Phosphorylierung, Ubiquitinierung.- kann eine veränderte Chromatinstruktur und damit Genaktivierung/Genstilllegung bewirken- (Bild modifiziert nach G. Egger et al., (2004) Nature 429:457-463)

Drei Mechanismen der vererbbaren Abschaltung von Genen sind (i) RNA-Interferenz, (ii) Histon Modifikation und (iii) DNA-Methylierung. Zum Unterschied von Veränderungen an der Nukleotidsequenz der DNA verblasst das „epigenetische Gedächtnis“ zumeist nach einigen wenigen Generationen [4]. Die erblichen epigenetischen Modifikationen werden unabhängig von der DNA-Replikation in das Transkriptions-Translationssytem der Zelle eingeführt und können daher zu allen Lebzeiten auftreten. Es wird daher auch möglich, dass Lebensstil und Umwelteinflüsse durch ein sogenanntes „epigenetisches Gedächtnis“ an die Nachfahren weitergegeben werden. In diesem Sinne tritt über das Genaktivitätsmuster eine epigenetische Vererbung erworbener Eigenschaften ein.

Die schon lang bekannte und nunmehr durch chemisches und molekularbiologisches Wissen untermauerte Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften wurde vor allem in der populär- und pseudowissenschaftlichen Literatur als „Neo-Lamarckismus“ gefeiert [5,6] und sogar ideologisch missbraucht [7]. In der seriösen Wissenschaft bietet die Epigenetik eine entscheidende Bereicherung der genetischen Vererbung [8]: Durch die Möglichkeit, dass Teile der Lebenserfahrungen direkt an die Nachkommen weitergegeben werden können, wird der evolutionäre Anpassungsprozess schneller und unmittelbarer als die konventionelle Genetik, die mit ungerichteten Mutationen arbeiten muss. Die Evolution der höheren Lebewesen, insbesondere die der Pflanzen und Tiere, verwaltet und verarbeitet nicht nur größere Genome, sie kann sich auch eines erweiterten Repertoires der Vererbung bedienen. In den zusätzlichen Prozessen spielt die RNA eine tragende Rolle.

Typisch für die Entwicklung einer dynamischen Wissenschaft wie der mit der Chemie vereinigten Biologie ist, dass die meisten Regeln ihre Gültigkeit verlieren und durch neue ersetzt werden müssen. Gerade diese Tatsache macht die Molekularbiologie der Zukunft so faszinierend.


[1] Larry J. Croft, Martin J. Lercher, Michael J. Gagen, John S. Mattick. 2003. Is prokaryoric complexity limited by accelerated growth in regulatory overhead? Genome Biology 5:P2.

[2] Thomas R. Cech, Joan A. Steitz, 2014. The Noncoding RNA Revolution – Trashing Old Rules to Forge New Ones. Cell 157(1):77-94.

[3] Gerda Egger, Gangning Liang, Ana Aparicio, Peter A. Lones. 2004. Epigenetics in Human Disease and Prospects for Epigenetic Therapy. Nature 429(6990):457-463.

[4] Agustina D’Urso, Jason H. Bricker. 2017. Epigenetic Transcriptional Memory. Curr.Genetics 63(3):435-439.

[5] Vorarlberger Bildungsserver. 2007. http://www.bio.vobs.at/gen-mol/g-epigenetik.php. Retrieved 29.02.2020.

[6] Vorarlberger Bildungsserver. 2007. http://www.bio.vobs.at/evolution/e06-lamarckismus_epigenetik.php. Retrieved 29.02.2020.

[7] Edouard I. Kolchinsky, Ulrich Kutschera, Uwe Hossfeld, Georgy S. Lewit. 2017. Russia’s New Lysenkoism. Curr.Biology 27(19):R1042.

[8] Étienne Danchin, Arnaud Pocheville, Phillipe Huneman. 2018. Early in Life Effects and Heredity: Reconciling Neo-Darwinism with Neo-Lamarckism under the Banner of the Inclusive Evolutionary Synthesis. 2018. Phil.Trans.Roy.Soc.B 374:e20180113.


*Der vorliegende Artikel ist der Schlussteil des Vortrags "Chemische Aspekte der Evolution", den der Autor im Rahmen einer Veranstaltung der Gesellschaft der Freunde der ÖAW in Kooperation mit der TU Wien am 3.März 2020 gehalten hat. Der vollständige, mit vielen Literaturzitaten und Abbildungen versehene Vortrag findet sich auf der Homepage des Autors: https://www.tbi.univie.ac.at/~pks/Presentation/wien-oeaw20text.pdf und https://www.tbi.univie.ac.at/~pks/Presentation/wien-oeaw20.pdf


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