Clickbaits – Köder für unsere Aufmerksamkeit

Do, 24.01.2019 - 16:54 — Michael Simm

Michael SimmIcon Gehirn

Clickbaits – auf deutsch etwa „Klickköder“ - sollen die Besucher von Webseiten und sozialen Medien zu Aktionen verleiten - sowohl in kommerzieller als auch in politischer Hinsicht. Die Köder - meist reißerische Überschriften - wecken die Neugier der Leser, clicken diese auf die verlinkten Inhalte, so führt dies dann zwar oft zur Enttäuschung, ergibt insgesamt aber mehr User, höhere Reichweite (Werbung) und hat einige Websitebetreiber schon sehr reich gemacht. Leider haben Clickbaits auch in Naturwissenschaften und Medizin Eingang gefunden: auffallend oft werden „Durchbrüche“ oder gar „Revolutionen“ verkündet - Übertreibungen, die unerfüllbare Hoffnungen erwecken. Wie Clickbaiting funktioniert und warum wir psychologisch chancenlos dagegen sind, erklärt der deutsche Biologe und Wissenschaftsjournalist Michael Simm im folgenden Artikel.*

Was haben Sonderangebote und Katzenbilder, die Affären der Promis und irrwitzige Schlagzeilen gemeinsam? Antwort: Sie alle sind beliebte Köder für das wertvollste Gut in der alles beherrschenden Medienlandschaft: Unsere Aufmerksamkeit. Denn Aufmerksamkeit lässt sich im Gegensatz zu Geld und materiellen Besitztümern nicht aufsparen oder vermehren. Sie ist begrenzt – und das macht sie enorm wertvoll. Wertvoll für den Absender, wohlgemerkt. Wir als Empfänger werfen sie oft den banalsten Botschaften hinterher.

Dies mag der Grund sein, warum Tricks und Täuschungen, die früher Marktschreiern, unseriösen Boulevardblättern und demagogischen Politikern vorbehalten schienen, im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien florieren: Als „Klickköder“ (englisch „Clickbaits“) sollen sie Besucher dazu bringen, hinzuschauen, zuzuhören, sich zu engagieren – und am Ende natürlich etwas zu kaufen.

Zwar gibt es zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen des Clickbaitings nur wenige Forschungsarbeiten, und die Köder werden vorwiegend anhand der Erfahrungen von Marketingfachleuten ausgelegt. Bewusst oder unbewusst nutzt man dabei aber die Mechanismen, mit denen das Gehirn seine Aufmerksamkeit steuert, und versucht, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Wie "erfolgreiche" Titel aussehen können, zeigt Abbildung 1.

Abbildung 1. Überschriften, die unsere Aufmerksamkeit wecken. (Bild: https://www.dasgehirn.info/entdecken/clickbaiting)

Wut verkauft sich gut

Emotionen spielen dabei eine überragende Rolle, denn sie markieren, was wir als besonders erachten. Und umgekehrt: Jonah Berger, Marketingspezialist, Bestsellerautor („Invisible Influence“) und Professor an der Wharton School der University of Pennsylvania, hat untersucht, warum manche Online-Inhalte wie Werbung, oder Videos sich schneller verbreiten als andere. Er wertete dazu die Inhalte aus, die während dreier Monate in der New York Times erschienen waren, und wie oft sie in sozialen Medien wie Facebook und Twitter mit „Likes“ und „Teilen“ positiv bewertet und weitergereicht wurden. Die Bilanz seiner Arbeit, erschienen unter dem Titel „What Makes Online Content Viral?“, lautet:

Erfolgreich ist, was Staunen verursacht, Wut oder Angst. Inhalte, die weniger erregende oder deaktivierende Emotionen hervorrufen, wie Traurigkeit, bekamen dagegen weniger Aufmerksamkeit.

Eine andere Studie, bei der fast 70.000 Nachrichten der britischen BBC, der New York Times, der Agentur Reuters und der Tageszeitung Daily Mail ausgewertet wurden, fand heraus, dass schlechte Nachrichten klar in der Überzahl waren, gefolgt von neutralen und einem kleinen Anteil positiver Nachrichten. Den größten Anteil negativer Nachrichten hatte dabei das Boulevardblatt Daily Mail mit 65 Prozent. Dem Publikum gefiel das offensichtlich, denn ausgerechnet jene Texte, deren Überschriften die Forscher als höchst emotional bewertet hatten, wurden per Twitter am häufigsten weitergeleitet.

Clickbaiting nimmt zwar auch positive Emotionen wie Humor oder Überraschung ins Visier, ist damit aber weniger erfolgreich, als mit schlechten Nachrichten. Die Forschung bestätigt somit eine alte Journalistenweisheit: „Only bad news is good news.“ Im Umgang mit Gewinn und Verlust ist das Gehirn nämlich alles andere als rational, argumentiert der Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2002, Daniel Kahneman. Tendenziell überwiegt die Angst, andererseits wird auch die Aussicht auf einen Lottogewinn extrem überschätzt – und beides spielt gewieften Verkäufern schon seit jeher in die Hände.

Das Gehirn ist leicht zu überlisten

Eine ähnlich große Rolle wie die Emotionen spielen unsere Gewohnheiten. Wie mächtig sie sind, merken wir auch daran, dass wir oftmals Texte, Bilder und Videos aufrufen, obwohl uns bereits die Überschrift signalisieren sollte: Achtung, hier wird mächtig übertrieben.

In seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ fasst Kahneman die Forschungen mehrerer Jahrzehnte zusammen und unterscheidet ein schnelles, instinktives und emotionales Denksystem von einem langsamen, berechnenderen und damit auch anstrengenderen System. Beide Mechanismen könnten als Einfallstore für die Tricks der „Clickbaiter“ dienen:

So müssen in der Regel starke Worte her, um Ereignisse aufzuwerten, die sonst wenig Beachtung fänden: So produzieren Winzer offenbar am Fließband „Jahrhundertjahrgänge“, Musikfans feiern ihre Bands jeweils als die „Beste aller Zeiten“, und in der Wissenschaft oder der Medizin ist auffallend oft von „Durchbrüchen“ oder gar „Revolutionen“ die Rede, obwohl es sich bei näherer Betrachtung doch um eher kleine Fortschritte handelt.

Eine prominente Erklärung dafür, warum wir immer wieder auf die leeren Versprechungen der Clickbaits hereinfallen, stammt von George Loewenstein, Professor für Wirtschaftswissenschaften und Psychologie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (USA). Er postulierte Mitte der 1990er Jahre die Theorie von der „Neugierlücke“. Sie besagt, dass wir es als Mangel und sogar Belastung empfinden, wenn wir weniger wissen, als wir wissen wollen. Dieses Unwohlsein verspüren wir als Neugier. Aus Loewensteins Sicht ist sie ein Trieb, dem wir uns nur schwer entziehen können, und dem wir wie Drogensüchtige folgen, um uns kurzfristige Erleichterung zu verschaffen. Die Theorie wird gerne zitiert, wird aber längst nicht von allen Psychologen unterstützt. Ein wichtiger Kritikpunkt lautet, dass es sich bei der „Neugierlücke“ lediglich um eine Idee handelt, zu der kaum empirische Studien durchgeführt wurden. Tatsache ist jedoch, dass die nach diesem Prinzip aufgebauten Inhalte gerne geklickt werden. Das gilt auch für Listen nach dem Muster:

Noch drei Dinge, auf die jeder abfährt:

  1. Katzenbilder
  2. Babys
  3. Listen

Listen werden gerne gelesen vermutet Kahneman, weil vermeintlich neue Informationen dort bereits vorstrukturiert sind. Ihr Umfang sei dann leichter abzuschätzen. In einer zunehmend komplexeren Welt vermitteln Listen womöglich auch das gute Gefühl, den Überblick zu haben.

Katzen und Hunde dagegen sind attraktive Werbebotschafter, weil ein Großteil der Bevölkerung sie als Haustiere und Begleiter hält. Durch die vermeintliche Gemeinsamkeit wird das Interesse geweckt, und die positiven Erfahrungen mit dem treuen Begleiter daheim werden umgemünzt in einen Vertrauensvorschuss gegenüber einem Unbekannten. Zufrieden klicken wir: „Gefällt mir“. Und steigern damit Rating und Attraktivität der bewerteten Seite.

Babys – sowohl tierische, als auch menschliche – bedienen dagegen das so genannte Kindchenschema. Wie schon der VerhaltensforscherKonrad Lorenz zeigen konnte, wirkt die Kombination aus bestimmten körperlichen Merkmalen – wie große Augen, rundes Gesicht und eine kleine Nase – als Schlüsselreiz, der ein angeborenes Brutpflegeverhalten auslösen kann.

Aufmerksamkeit ist die neue Währung, und wer sie schafft, ist König. Facebook, Google und Amazon sind Paradebeispiele für Geschäftsstrategien, die auf einem tiefen Verständnis der Ökonomie der Aufmerksamkeit beruhen. Gemeinsam erwirtschafteten sie im Jahr 2017 einen Umsatz von 329,4 Milliarden Dollar (ca. 291 Milliarden Euro).

Spezialisten steuern unsere Aufmerksamkeit

Binnen 20 Jahren ist eine neue Branche mit hochspezialisierten Jobs entstanden. Einige tun nichts anderes, als die Inhalte von Webseiten so zu optimieren, dass sie bei den allmächtigen Suchmaschinen möglichst weit oben gelistet werden. Ist der Besucher erst einmal angelockt, verfolgen andere Spezialisten den Fluss der Aufmerksamkeit. So bietet der Branchenführer Google mit „Analytics“ einen Dienst, mit dem jeder Betreiber einer Webseite genauestens verfolgen kann, welche Seiten wie oft und wann aufgerufen wurden, welche Suchworte die Besucher bei welchen Suchmaschinen eingegeben haben, bevor sie bei ihm gelandet sind, ob sie früher schon einmal da waren, oder auch wie lange sie auf einer Seite geblieben sind. Ergänzt werden die schier endlosen Möglichkeiten der Auswertung mit weiteren Werkzeugen zur „Optimierung“ und Aktualisierung der Seiten, Datenanalysen, Kundenbefragungen und weiteren Marketing-Angeboten.

Auch Amazon unterstützt seine Verkaufs- und Werbepartner darin, die Aufmerksamkeit der Webseiten-Besucher zu lenken und damit möglichst viel Geld zu verdienen. Dafür werden die Inhalte und die Platzierung von Werbeflächen optimiert. Ausgeklügelte Algorithmen sorgen im Hintergrund dafür, dass jeder individuelle Benutzer exakt die Anzeigen zu sehen bekommt, die mit größter Wahrscheinlichkeit geklickt werden.

Die Folge ist, dass der Wert einer Webseite sich heute kaum mehr an Zuverlässigkeit oder journalistischer Qualität bemisst. Auch die Reichweite allein – also die Zahl der Leser – ist nicht mehr entscheidend. Viele Leser sind zwar gut. Was jedoch wirklich zählt, ist die Zahl derer, die auch auf die Anzeigen reagieren. Das wussten zwar auch früher die Anzeigenabteilungen der Zeitungen, Magazine und Sender. Doch während die alten Medien dem Anzeigenkunden lediglich einen „Tausenderkontaktpreis“ berechnen konnten – der festlegt, wie viele Euro für jeweils 1000 potenzielle Leser zu bezahlen waren, – lässt sich heute im Online-Geschäft anhand der Klicks exakt nachvollziehen, wie viele Besucher tatsächlich auf eine Anzeige reagiert haben – und ob sie danach einen Kauf getätigt haben. Im Internet ist heute jeder ein gläserner Kunde.

Schon immer waren die Gesetzmäßigkeiten, mit denen unser Gehirn auf äußere Reize reagiert, die Grundlage für Manipulationen durch andere. Das Internet und die sozialen Medien haben jedoch völlig neue Möglichkeiten geschaffen, unser Verhalten und unsere Entscheidungen automatisch zu erfassen, auszuwerten und zu speichern. Die Sorgen um die manipulative Macht des Clickbaiting sind gerechtfertigt. Schaden kann es jedenfalls nicht, vor der nächsten großen Entscheidung Handy und Computer auszuschalten und sich die Wirklichkeit vor der eigenen Haustüre anzuschauen.


*Der vorliegende Artikel ist auf der Webseite www.dasGehirn.info im Dezember 2018 erschienen, in dessen Fokus "Clickbaiting" stand: https://www.dasgehirn.info/clickbaiting/clickbaiting. Der Artikel steht unter einer cc-by-nc-nd Lizenz und wurde von der Redaktion unverändert verwendet.

dasGehirn ist eine exzellente deutsche Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe).


Weiterführende Links

(nur frei zugängliche Quellen)

Weitere 12 Artikel zum Thema clickbaiting auf https://www.dasgehirn.info/entdecken/clickbaiting

Julio Reis et al.: Breaking the News: First Impressions Matter on Online News, Proceedings of the Ninth International AAAI Conference on Web and Social Media [https://www.aaai.org/ocs/index.php/ICWSM/ICWSM15/paper/viewFile/10568/10535]

Editorial: Avoid hype (10 October 2017); DOI: 10.1038/s41551-017-0151-4. www.nature.com/natbiomedeng

Mike Klymkosky, 12.04.2018: Ist ein bisschen Naturwissenschaft ein gefährlich' Ding? http://scienceblog.at/ist-ein-bisschen-naturwissenschaft-ein-gef%C3%A4hrlich-ding.