Artikel über den dramatischen Rückgang der Insekten erzielt 2017 Top-Reichweite in Fachwelt und Öffentlichkeit

Do, 28.12.2017 - 10:48 — Redaktion

RedaktionIcon WissenschaftsgeschichteNeue Verfahren zur Abschätzung der Resonanz wissenschaftlicher Veröffentlichungen - sogenannte Altmetrics, spiegeln die online- Kommunikatiosmöglichkeiten wieder und zeigen auf, wie sich wissenschaftliche Informationen in der Fachwelt und ebenso in der Öffentlichkeit verbreiten. das britische Unternehmen Altmetrics.com hat so für 2017 eine Liste der 100 Publikationen mit der größten Reichweite erstellt [1]. Einen der vordersten Plätze nimmt eine Studie ein, die über den dramatischen Rückgang der fliegenden Insekten in deutschen Naturschutzgebieten berichtet [2].

Welche Resonanz haben Artikel mit wissenschaftlichem Inhalt?

In der Fachwelt wird üblicherweise die Häufigkeit angegeben, mit welcher ein Artikel in anderen Arbeiten zitiert wird. Dieser Wert lässt sich einfach feststellen (beispielsweise gibt es diese Information in Google Scholar und ISI-World of Science), wird vielfach mit der Qualität der Publikation gleichgesetzt und zur Beurteilung wissenschaftlicher Leistung herangezogen. Er sagt natürlich nur wenig darüber aus , wie viele Personen das Ganze tatsächlich gelesen (oder auch nur teilweise angesehen) haben und daraus für ihre eigenen Zwecke Gewinn gezogen haben. Insbesondere gibt er auch keinen Hinweis, ob und wieweit ein Wissenstransfer in die Öffentlichkeit erfolgt ist.

Im Zeitalter des Internets, das uns Publikationen online lesen, kommentieren und mit Anderen - auch auf sozialen Plattformen - teilen lässt, ist eine Bewertung auf der Ebene der Zeitschriften zweifellos nicht mehr zeitgemäß - eine Reihe prominenter Wissenschafter hat sich 2012 (San Francisco Declaration of Research Assessment) für eine neue Form ausgesprochen, mit der sich der Einfluss von Publikationen besser bestimmen lässt.

Altmetriken

Die sogenannten Altmetriken bieten derartige Möglichkeiten. Über das Zitate Zählen hinaus erfassen sie weltweit Nennungen, "Liken" und Teilen auf sozialen Netzwerken, Diskutieren und Verlinken auf Webseiten, Nachrichtenportalen und Blogs und Berichte in den Medien (online Zeitungen, TV). Damit geben Altmetrics die Kommunikationsmöglichkeiten wieder, zeigen, wie sich wissenschaftliche Informationen in der Fachwelt und ebenso in der Öffentlichkeit verbreiten.

Einer der wichtigsten Anbieter solcher Daten, das britische Unternehmen Altmetrics.com, scannt täglich über 2000 Massenmedien, die online über Science berichten (darunter auch Standard, Kurier, Presse, NZZ, ORF), Studienpläne ("Open Syllabus Project"), Zitationsplattformen, Wikipedia, an die 11 000 Blogs, Soziale Medien (Facebook, Twitter, etc.), u.a.

Auf dieser Datengrundlage rankt Altmetrics.com wissenschaftliche Arbeiten seit 2013 und erstellt eine Liste der Top 100 Artikel [1]. Die Liste 2017 basiert auf über 18,5 Millionen Nennungen von 2,2 Millionen unterschiedlichen Forschungsergebnissen aus allen Bereichen der Naturwissenschaften, aus Informations-/Computerwissenschaften, Medizin/Gesundheitswissenschaften, Geschichte/Archäologie und Sozialwissenschaften.

Die Top 10 Artikel im Jahr 2017

Auf der Basis der oben genannten Daten vergibt Altmetrics.com Punkte. Die 10 Artikel mit der höchsten Reichweite sind im folgenden mit Titel und Punktezahl aufgeführt:

  1. Associations of fats and carbohydrate intake with cardiovascular disease and mortality in 18 countries from five continents (PURE): a prospective cohort study (Lancet) Punkte: 5876 Forscher haben die Ernährung von mehr als 100 000 Menschen in 18 Ländern untersucht: niedriger Fettkonsum kann das Risiko eines vorzeitigen Todes erhöhen.
  2. Work organization and mental health problems in PhD students (Research Policy ). Punkte: 5060. Arbeitstress von Doktoranden kann deren geistige Gesundheit beeinträchtigen.
  3. Comparison of Hospital Mortality and Readmission Rates for Medicare Patients Treated by Male vs Female Physicians (JAMA Internal Medicine) Punkte: 4715. Patienten, die von Ärztinnen behandelt wurden haben niedrigere Sterblichkeit und Rückfallsraten
  4. Correction of a pathogenic gene mutation in human embryos (Nature). Punkte : 4510. Mit CRISPR wurde eine Genmutation im menschlichen Embryo repariert.
  5. Gender stereotypes about intellectual ability emerge early and influence childrens interests (Science). Punkte: 4410. Stereotypen in der Kindheit bedingen, dass Frauen sich nur widerwillig mit Glanzvollem beschäftigen.
  6. More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. (PLoS One). Punkte: 4281. Der Rückgang fliegender Insekten war viel stärker und schneller als angenommen.
  7. Worldwide trends in body-mass index, underweight, overweight, and obesity from 1975 to 2016: a pooled analysis of 2416 population-based measurement studies in 128á9 million children, adolescents, and adults. (The Lancet). Punkte: 4016 . Übergewicht bei Kindern und Erwachsenen ist global in den letzten 40 Jahren auf das Zehnfache gestiegen.
  8. A Feathered Dinosaur Tail with Primitive Plumage Trapped in Mid-Cretaceous Amber. (Current Biology). Punkte: 3985. Eine Dinosaurier-Spezies hatte Zähne, die es im Alter verlor.
  9. Efficacy and effectiveness of an rVSV-vectored vaccine in preventing Ebola virus disease: final results from the Guinea ring vaccination, open-label, cluster-randomised trial (Ebola ‚a Suffit!) (The Lancet). Punkte: 3920. Eine Ebola-Vakzine zeigte während des Ausbruchs in West-Afrika volle Wirksamkeit.
  10. An extra-uterine system to physiologically support the extreme premature lamb (Nature Commun.) Punkte: 3837. Eine künstliche Gebärmutter eröffnet neue Möglichkeiten für eine Anwendung am Menschen.

Die Top 10 Artikel sprechen vor allem Gesundheits- und soziale Themen an. Daneben hat auch ein Artikel über eine bestimmte Dinosaurierspezies großes Interesse erweckt. Besonders hervorzuheben ist aber die Untersuchung zum dramatischen Verschwinden der Insekten in Deutschland (Rang 6), die im Folgenden ausführlicher behandelt werden soll. (Eigentlich ist eine noch wesentlich höhere Reichweite anzunehmen: im Vergleich zu den Artikeln auf Platz 1 - 5, die bis zu einem Jahr vor dem Ranking im Internet zugänglich waren, wurde die Insektenstudie erst knapp 1 Monat davor veröffentlicht.) Abbildung 1.

Abbildung 1. Der Rückgang der fliegenden Insekten ist stärker als man angenommen hat. Der farbige „Altmetric Donut“ zeigt durch die unterschiedlichen Farben an und wo der Artikel erwähnt wird : 206 Mal in Nachrichten, 34 mal in Blog-postings, 3 Nennungen in Wikipedia, 123 Mal in Facebook, etc. (Bild: https://www.altmetric.com/top100/2017/#list&article=27610705; open access)

Das Verschwinden der fliegenden Insekten in Deutschland

Eine Gruppe von Naturwissenschaftern, darunter zahlreiche Entomologen, hat über 27 Jahre - von 1989 bis 2016 - an 63 Standorten Proben gesammelt. Die Standorte lagen in Naturschutzgebieten und wiesen unterschiedliche Habitatgruppen auf - mageres Grünland, nährstoffarmes Heideland und Dünen -, wie sie für das deutsche Tiefland charakteristisch sind. (Abbildung 2). Abbildung 2. Malaise-Falle (links) und die Standorte (rechts, gelb) in Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen (n = 57), Rheinland-Pfalz (n = 1) and Brandenburg (n = 5). 160 Wetterstationen sind als schwarze Kreuze eingezeichnet (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809.s006)

Die fliegenden Insekten wurden dort über die gesamte Vegetationsperiode (März bis Oktober) in sogenannten Malaise-Fallen gefangen und ihre täglich anfallende, gesamte Biomasse an allen Standorten nach einem speziell entwickelten, standardisierten Verfahren bestimmt (Abbildung 2). Es wurde dabei untersucht, wie rasch der Rückgang der Insekten Biomasse erfolgte und welchen Einfluss darauf Faktoren wie

  • Wetter,
  • Habitate (Pflanzenzahl und Diversität; Stickstoff, pH, Feuchtigkeit, Licht) und
  • Landnutzung (Wald, Ackerland, Grasfläche, Oberflächenwasser) hatten, die im Umkreis von 200 m um die Fallen herum durch Flugaufnahmen dokumentiert wurden.

Die resultierende komplexe Datensammlung wurde mittels solider statistischer Methoden analysiert und Modelle für den Zeitverlauf entwickelt, in welche die einzelnen Faktoren und auch Wechselwirkungen zwischen diesen miteinbezogen wurden.

Das Ergebnis zeigte, dass in dem untersuchten Zeitraum von 27 Jahren die Menge an fliegenden Insekten über die gesamte Saison hin um rund 76 % zurückgegangen ist. Nur auf die Sommermonate bezogen, in denen jeweils das größte Insektenaufkommen verzeichnet wurde, fiel der Rückgang noch höher (82 %) aus. (Abbildung 3).

Unabhängig vom jeweiligen Habitat erfolgte der Rückgang an allen Standorten nach einem sehr ähnlichen Muster. Es kann also nicht von einem lokalen Phänomen gesprochen werden - wahrscheinlich dürfte ein vergleichbares Verschwinden von Insekten auch auf andere Gebiete in Europa zutreffen. Wenn es sich dabei um nicht-geschützte Flächen handelt, könnte es zu noch höheren Verlusten von Insekten kommen.

Abbildung 3. Rückgang der Biomasse fliegender Insekten von 1989 bis 2015 (A) und die Variation der Biomasse innerhalb der Saison von März bis Oktober (B). Die Boxen in A stellen die Biomassen der jährlich in allen Fallen, an allen Standorten (n = 1503) gefangenen Insekten (in g pro Tag) dar. Modelle, die den Verlauf des Rückgangs simulieren, sind als Linien eingezeichnet. In B ist ersichtlich, dass die höchste Menge im Sommer gefangen wurde und der Rückgang in dieser Jahreszeit besonders stark war. Die Farben verändern sich von blau (1989) nach gelb (2016).

Wodurch der Rückgang begründet ist, konnte aus den Untersuchungen nicht geklärt werden. Ein Einbeziehen der Klimadaten - aus den über die 160 Wetterstationen aufgenommenen täglichen Daten - und auch der - aus den Luftbildern hervorgehenden - Landnutzung und Vegetation im Umfeld der Standorte zeigte jedenfalls, dass Änderungen dieser Parameter praktisch keinen Einfluss auf das Verschwinden der Insekten hatten. Abbildung 4.

Ob möglicherweise eine Nutzung von Pestiziden in den an die Naturschutzgebiete angrenzenden, landwirtschaftlich genutzten Flächen für den Rückgang verantwortlich sein könnte, wurde in dieser Studie nicht erfasst.

Abbildung 4. Die untersuchten Klimafaktoren (Temperatur, Niederschlag, Frost), Vegetationsfaktoren (Gräser, Bäume) und auch Feuchtigkeit, Licht und Stickstoff wirken sich nur geringfügig auf den Insektenrückgang aus. Die Ursache ist zum größten Teil noch nicht geklärt. (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809.g005. (Lizenz: cc-by)

Fazit

Insekten spielen eine zentrale Rolle im Gleichgewicht der Natur; sie sind essentiell für die Bestäubung von Pflanzen, fressen Pflanzen und Abfall und dienen als Nahrung für Vögel, Amphibien und Säuger. Der "flächendeckende" starke Rückgang nicht nur einiger Spezies sondern der gesamten Biomasse lässt die Alarmglocken schrillen - insbesondere, da die Untersuchungen ja in Naturschutzgebieten erfolgten, wo man erwartete, dass man die Funktionen des Ökosystems und die Artenvielfalt erhalten könne. Es ist dringend notwendig die Ursachen des Rückgangs der Insekten herauszufinden, um diesen weiterhin ihre Funktion für den Erhalt der Ökosysteme zu sichern.


[1] https://www.altmetric.com/top100/2017/
[2] CA Hallmann et al., (2017) More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0185809 (Der Artikel ist unter cc-by lizensiert)


Weiterführende Links

Artikel zum Insektenrückgang

Der Standard: "Nach Kontroverse: Studie bestätigt dramatischen Insektenschwund"

SPIEGEL ONLINE, Hamburg, Germany: "Insektensterben: Zahl der Insekten in Deutschland sinkt deutlich"

Süddeutsche.de GmbH, Munich, Germany: "Insektensterben: Rückgang um 76 Prozent in Deutschland"

Spektrum der Wissenschaft: "Insektenzahl in Deutschland nimmt um 75 Prozent ab "