Porträt eines Proteins. — Die Komplexität lebender Materie als Vermittlerin zwischen Wissenschaft und Kunst

Fr, 17.01.2014 - 08:44 — Gottfried Schatz Gottfried SchatzIcon Chemie

Mit der Feststellung, daß unser Verständnis der materiellen Beschaffenheit der Welt vor allem auf unseren Kenntnissen der Kristallographie gründet , hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Jahr 2014 zum Internationalen Jahr der Kristallographie erklärt. Die Kristallstruktur eines Moleküls ermöglicht über dessen 3D-Bild hinaus auch Einblicke in seine Funktion. Dieses komplexe System einfach und deutlich zu veranschaulichen erinnert an die Kunst eines Porträtisten, dessen Bild auch über den Charakter des Dargestellten Auskunft gibt. Das Porträt des Proteins Aquaporin-1 macht erkennbar, wie es den essentiellen Durchtritt von Wasser durch die Membranen der Lebewesen ermöglicht.

Die Neue Nationalgalerie von Berlin hütet in ihrem Untergeschoss einen besonderen Schatz - Oskar Kokoschkas Porträt seines Freundes und Förderers Adolf Loos (Abbidung 1, beigefügt von Redaktion). Dieses expressionistische Meisterwerk lässt tief in die Seele des grossen Architekten blicken. Zwar lassen weder der angedeutete Rumpf noch der träumende Blick den kämpferischen Neuerer erkennen, doch die übergross gemalten, fiebrig ineinander verschlungenen Hände verleihen diesem Bild eine hypnotische Kraft. Sie sprechen von Zweifeln und inneren Stürmen und sind dennoch die entschlossenen Hände eines Homo Faber, der Grosses baut.

Porträt des Adolf Loos (Oskar Kokoschka)Abbildung 1. Porträt des Adolf Loos, gemalt von Oskar Kokoschka, 1909 (Schloss Charlottenburg, Berlin)

Für Pablo Picasso war Kunst die Lüge, die uns die Wahrheit zeigt. Nichts bestätigt dies klarer als Kokoschkas tiefenpsychologisches Porträt. Es verfremdet die äussere Form des Modells, um dessen inneres Wesen offenzulegen. Wer könnte angesichts dieses Bildes noch der kategorischen Behauptung glauben, Kunst suche Schönheit, Wissenschaft dagegen Wahrheit? Dennoch würden die meisten von uns zögern, Kokoschkas Bild als wissenschaftliches Werk zu bezeichnen. Ein Grund ist, dass wir Kunst und Naturwissenschaft als getrennte, wenn nicht sogar gegensätzliche Welten sehen. Kunst gilt als intuitiv, Naturwissenschaft als objektiv. Kunst sucht im Allgemeinen das Individuelle, Naturwissenschaft im Individuellen das Allgemeine. Wir erwarten von Naturwissenschaft Wahrheit, die uns die Lüge zeigt.

Informationsfülle

An dieser Sichtweise sind auch wir Wissenschafter nicht ganz unschuldig. Wenn wir eine künstlerische Ader haben, verstecken wir sie hinter einem hölzernen Schreib- und Redestil und trockenen Tabellen oder Grafiken. Und wenn wir schon Bilder verwenden, wollen wir in diesen nichts weglassen oder übermässig hervorheben, um nicht als unehrlich zu gelten. Dieser Ehrenkodex wird jedoch bei der Beschreibung komplexer Systeme immer mehr zur Fessel. Der Stoffwechsel lebender Zellen, das Erdklima oder ganze Galaxien liefern uns Forschern so viel Information, dass wir sie nicht mehr in der üblichen Weise wiedergeben können.

Der Wasserkanal Aquaporin

Dies gilt selbst für einzelne Moleküle - wie das Protein Aquaporin, das mein Freund Andreas Engel seit vielen Jahren untersucht. Aquaporin ist ein Riesenmolekül aus über neuntausend Atomen, das der umhüllenden Membran unserer Zellen die Aufnahme und Abgabe von Wasser erleichtert. Das Protein ist ein Verbund aus vier gleichen Proteinketten. Jede von ihnen faltet sich in der Zelle spontan zu einem charakteristischen Knäuel und vereinigt sich dann mit drei gleichartigen Knäueln zum funktionstüchtigen Aquaporin (Abbildung 2, beigefügt von Redaktion). Der Wasserkanal Aquaporin-1 (AQP1)Abbildung 2. Der Wasserkanal Aquaporin-1 (AQP1) besteht aus 4 gleichen Proteinketten, die, in die Zellmembran eingebettet, jeweils einen funktionellen Wasserkanal enthalten. Kristallstruktur der vier „Knäuel“ (Monomere) des Aquaporin: A) Kugel-Stäbchen-Modell (alle Atome ausser H sind dargestellt; C: schwarz, N: blau, O: rot, S: gelb). B, C), vereinfachte Darstellung: jede Proteinkette bildet 6 Helices aus, welche die Membran durchspannen und durch Loops verbunden sind (B: Seitenansicht, C: Aufsicht). Zwei der Loops bilden eine enge Pore in Sanduhrform, durch die nur das kleine Wassermolekül frei durchtreten kann (C, D). Bilder: A – C Protein Data Bank 1H6I-Cn3D 4.3.1, D: Wikipedia.

Analyse der Kristallstruktur von Aquaporin

Doch wie wirkt dieses vierteilige Protein als Wasserkanal? Andreas und einige seiner Kollegen wollten dies wissen und bestimmten zu diesem Zweck seine räumliche Struktur.

Nach Jahren mühevoller Arbeit hatten sie die Anordnung jedes Atoms und die verschlungenen Wege der vier Proteinketten in den vier Knäueln auf mindestens einen Milliardstel Meter genau bestimmt. Hätten sie mir jedoch all dies auf einem Computerbildschirm gezeigt (Abbildung 2A), hätte ich nur auf ein unverständliches Gewirr von Punkten und Linien gestarrt und wäre so klug gewesen wie zuvor. Die detailgetreue Darstellung eines komplexen Objekts - sei dies nun ein Protein oder ein Mensch - verschleiert dessen inneres Wesen.

Künstlerisches Flair

Andreas und seine Kollegen versuchten sich daher als Porträtisten, um aus den zahllosen Strukturdetails den Charakter ihres Proteins herauszuschälen. Sie liessen ihre Computer unwichtige Abschnitte der Proteinketten blass zeichnen, wichtige mit raffinierten Schattentechniken hervorheben oder den Rhythmus bestimmter Aminosäuren in den verschlungenen Ketten mit leuchtenden Farben sichtbar machen. Manchmal ließen sie einzelne Kettenteile ganz verschwinden, so dass die für den Wassertransport besonders wichtigen Teile der vier Proteinknäuel frei im Raum zu schweben schienen. Sie scheuten sich auch nicht, einzelne Bereiche in diesen Knäueln willkürlich zu vergrössern, um ihre genaue Form und chemische Eigenschaft zu betonen. Und gelegentlich gewährten sie ihrem künstlerischen Flair freien Lauf und gaben Detailporträts einen farbigen oder strukturierten Hintergrund, um eine wissenschaftliche Aussage so ästhetisch wie möglich zu gestalten.

So schufen sie Bilder von beeindruckender Schönheit, die häufig die Titelseiten wissenschaftlicher Zeitschriften schmückten. Doch wie allen guten Porträtisten ging es ihnen dabei nicht um Schönheit, sondern um das Innenleben ihres Modells. Die von ihnen geschaffenen Porträts zeichnen ein stämmiges Protein, das nicht frei im wässrigen Innenraum der Zelle herumschwirrt, sondern fest in einer Membran verankert ist und frappant einer Sanduhr ähnelt. Die Bilder erklären auch, weshalb die Verengung in dieser Sanduhr nur Wasser und keine anderen Moleküle durchlässt und eine genetische Veränderung dieser Verengung den Wassertransport in meinen Nieren gefährden könnte. Und schliesslich lassen sie erkennen, dass Aquaporin wenig flexibel ist, keine biologischen Signale aussendet und als passiver Kanal und nicht als energieumwandelnde Maschine arbeitet.

Stütze der Gesellschaft

Diese biochemischen Charakterstudien zeigen Aquaporin als solide Stütze der Gesellschaft. Ich würde sogar die Voraussage wagen, dass ihm in der Zelle ein langes Leben beschert ist. Proteinporträts können also ähnliche hellseherische Fähigkeiten entwickeln wie Kokoschkas Porträt des Schweizer Psychiaters Auguste Forel, das dessen Schlaganfall mit unheimlicher Genauigkeit vorausahnte. Um all dies in einem Proteinporträt zu erkennen, braucht es die Augen eines Molekularbiologen, denn wir sehen nur, was wir wissen. Wem Proteine fremd sind, der muss sich also mit der Schönheit dieser Bilder begnügen. Dies gilt jedoch auch für die Gemälde von Hieronymus Bosch oder Max Beckmann, die sich nur dem voll erschliessen, der ihre tiefgründige Symbolik versteht.

Sind Proteinporträts Kunst? Viele werden die Frage leidenschaftlich verneinen - doch mit welchen Argumenten? Sind diese Porträts weniger «künstlerisch» als detailgetreue Landschaftsbilder und Stillleben - oder als die geometrische Op-Art-Abstraktion eines Victor de Vasarely? Die Fragen sind müssig, denn Kunst lässt sich nicht in die Schablone akademischer Definitionen zwängen. Die Porträts von Aquaporin befriedigen mein Sehnen nach Schönem - und damit mein Herz.

Sie befriedigen aber auch meinen Hunger nach Neuem - und damit meinen Verstand. Sie zeigen mir ein faszinierendes Molekül und ein neues Kapitel in der Naturwissenschaft. Molekularbiologen wollen das Leben aufgrund seiner Bausteine verstehen. Je komplexer diese Bausteine sind, desto mehr gewinnen sie an Charakter. Und um diesen Charakter zu zeigen, sucht Wissenschaft immer öfter die Hilfe ihrer Schwester - der Kunst. Auch Wissenschaft muss nun lügen, um die Wahrheit zu zeigen. Die beiden Schwestern bleiben zwar getrennt, reichen aber einander wieder die Hände.

T Walz, B L Smith, M L Zeidel, A Engel, P Agre (1994) Biologically active two-dimensional crystals of aquaporin CHIP; J Biol Chem 269, 1583-1586.


Weiterführende Links

Die Kristallstruktur von Aquaporinen (und von sehr vielen anderen Proteinen) ist von der PDB Protein Data Bank frei abrufbar: Aquaporin-1

Der Nobelpreis für Chemie 2003 für „Entdeckungen von Kanälen in Zellmembranen“ wurde je zur Hälfte an Peter Agre für die Entdeckung des Wasserkanals Aquaporin und an Roderick MacKinnon für „strukturelle und mechanistische Studien an Ionen-Kanälen“ verliehen. (Leicht verständliche Darstellung, englisch).

Nobel-Vortrag von Peter Agre (2003): Video 45 min (Englisch)

Hier als PDF-Download Nobel Vortrag von Roderick MacKinnon (2003): Video 43 minutes (Englisch) Ebenfalls im PDF-Format