Eine stille Revolution in der Mathematik

Fr, 28.03.2014 - 06:16 — Peter Schuster

Icon MINTPeter SchusterAusgelöst und gesteuert durch die spektakuläre Entwicklung der elektronischen Rechner, ist in den letzten Jahrzehnten der Unterschied zwischen reiner und angewandter Mathematik fast völlig verschwunden. Computer-Modellieren hat in der Wissenschaft – ob es sich nun um Physik, Chemie oder Biologie handelt - weiteste Verbreitung gefunden.

Noch vor fünfzig Jahren existierte eine klare Trennlinie zwischen der reinen und der angewandten Mathematik: die reine Mathematik war im hehren Olymp der akademischen Wissenschaften angesiedelt, während die Angewandte Mathematik in Forschung und Lehre den Technischen Hochschulen überlassen wurde. Noch vor wenigen Jahren fragte ein Kollege vom Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen der TU Wien halb scherzhaft, halb gekränkt: „In unserem Mathematikinstitut betreiben unsere Leute reine Mathematik. Ist denn das, was ich mache, schmutzige Mathematik?“.

Tatsächlich hat die Mathematik in den vergangenen Jahrzehnten eine stille Revolution durchlebt und der einst als fundamental betrachtete Unterschied zwischen reiner und angewandter Mathematik ist fast vollständig verschwunden. Computer-Modellieren hat in der Wissenschaft weiteste Verbreitung gefunden und praktisch jede Universität beherbergt auch ein Department für Computerwissenschaften.

Algorithmus vs. RechnerDer Wettstreit zwischen dem algorithmischen Rechnen (links) und dem Verwenden eines Rechners (Abacus; rechts). Im Hintergrund steht die personifizierte Arithmetica als Schiedsrichterin. Holzschnitt aus dem Buch „Margarita Philosophica“ von Georg Reisch (1504).

Fortschritt im Computerunterstützten Rechnen – durch Verbesserungen in Hardware oder Algorithmen?

Seit den 1960er Jahren steigen Schnelligkeit der Rechenleistung und digitales Speichervermögen exponentiell an - die Verdopplungsrate beträgt bloß 18 Monate – ein Faktum, das allgemein als Moor‘sches Gesetz bezeichnet wird (siehe [1]). Wenig bekannt ist allerdings, dass die an sich rasante Steigerung der Computerleistung noch von den Fortschritten in der numerischen Mathematik übertroffen wurden, welche zu einem ungeheuren Anstieg in der Effizienz von Algorithmen führte.

Um numerische Hochleistungsmethoden verstehen, analysieren und designen zu können, bedarf es allerdings einer soliden mathematischen Ausbildung.

Die Verfügbarkeit von billiger Rechnerleistung hat auch die Einstellung zu exakten Resultaten verändert, die man erst an Hand komplizierter Funktionen erhält: Es braucht schließlich nicht so viel mehr Rechenzeit, um einen überaus komplexen Ausdruck (beispielsweise eine hypergeometrische Funktion) zu berechnen als für eine gewöhnliche Sinus- oder Cosinus-Funktion! Symbolisches Rechnen („Rechnen mit Buchstaben“ - führt zu Ergebnissen, die universell anwendbar sind) hat das Alltagsleben des Mathematikers ebenso verändert, wie das des Wissenschafters der Mathematik anwendet: Berechnungen komplexer und schwieriger Beziehungen sind enorm einfacher geworden, die Auswirkungen prägen u.a. auch die Art und Weise, wie heute analytisches Arbeiten stattfindet.

Neue Einrichtungen in der Mathematik

Die mathematischen und die naturwissenschaftlichen Gesellschaften, ebenso wie auch die diese fördernden Organisationen haben bereits auf die Umorientierung der Ziele in der Mathematik reagiert. Es wurden Einrichtungen geschaffen, welche direkte Zusammenarbeit zwischen mathematischer Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Wissenschaft stimulieren und erleichtern sollten. Waren es anfänglich vor allem Physik. Ingenieurwissenschaften und technologisch-ausgerichtete Industriezweige, die aus der Zusammenarbeit mit der Mathematik profitierten, so folgten später andere Disziplinen wie Chemie, Biologie und Soziologie. Die Ökonomie hatte schon lange Zeit Bezug zur Mathematik.

Dombaumeister Pilgram (Stephansdom; Wien)Angewandte Mathematik: Dombaumeister Anton Pilgram (15. Jh) mit geometrischen Konstruktionselementen in den Händen, dahinter deren Anwendung (Stephansdom Wien)

Aktuell finanziert die National Science Foundation (NSF) In den USA acht über den Kontinent verteilte Institute für angewandte Mathematik, auch die meisten Staaten der Europäischen Union haben Institute gegründet, in denen Mathematiker mit anderen Wissenschaftern zusammenkommen, ähnliche Entwicklungen gibt es auch in Südostasien – beispielsweise in Singapur), in China und in Indien.

Um nur einige herausragende Beispiele derartiger Institutionen in Europa zu nennen, so sind dies das Institute des Hautes Ètudes Scientifiques (IHES) in Frankreich und das Max Planck Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Deutschland. In Österreich gibt es zwei herausragende Einrichtungen: das seit 22 Jahren bestehende Erwin Schrödinger Institut für mathematische Physik (ESI, Universität Wien) und das vor 11 Jahren in Linz gegründete Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM) der ÖAW. Dank der internationalen Bekanntheit seines Gründungsdirektors, Heinz Engl, und der unermüdlichen Aufbauarbeit ist das RICAM heute ein Fixpunkt auf der Weltkarte der Mathematik.

Mathematiker sind anders

Mathematiker benötigen für ihre Arbeit weder eine große Gruppe noch besonders teure Geräte. Bei den von ihnen verwendeten Computern handelt es sich kaum um die großen „Supermaschinen“. Was Mathematiker aber brauchen, ist ein Austausch von Ideen und das persönliche Gespräch zwischen Wissenschaftern. Deshalb haben alle erfolgreichen neuen Einrichtungen eines gemeinsam: ein organisiertes, intensives Gästeprogramm und spezielle Veranstaltungen von Experten, die ein gemeinsames Forschen erleichtern sollen.

Wissenschaft – rein und/oder angewandt?

Verglichen mit anderen Disziplinen fand in der Mathematik die Verschmelzung von reiner und angewandter Forschung relativ spät statt.

In der Physik und Chemie des 19. Jahrhunderts fanden Entdeckungen bereits sehr schnell den Weg in eine industrielle Anwendung. Seitdem wird die Zeitspanne zwischen Erfindung, Patentanmeldung und Überführung in den industriellen Entwicklungsprozeß immer kürzer. Als Beispiel sei die Chemie genannt:

Hier hatte angewandte Forschung nie einen geringeren Stellenwert als Grundlagenforschung; das Motto “pure chemistry is poor chemistry“ gilt nach wie vor. Das ‚große‘ Geld wurde und wird hier mit den industriellen Anwendungen, aber nicht mit der akademischen Forschung gemacht. Die berühmte, seit 1887 bestehende, internationale Zeitschrift ‚Angewandte Chemie‘ (mit einer englischen Übersetzung) publiziert neue, grundlegende Arbeiten aus der chemischen Forschung, ebenso wie deren interessante Anwendungen - jede Grenzziehung zwischen „reiner“ Chemie und chemischen Ingenieurswissenschaften wäre künstlich und völlig unnötig. Ein herausragendes Beispiel dafür, wie Grundlagenforschung, Anwendung und Unternehmertum sich in einer Person vereinen lassen, ist der berühmte Österreichische Chemiker Carl Auer von Welsbach: er entdeckte vier neue Elemente des Periodensystem, machte drei weltverändernde Erfindungen - das Gasglühlicht, die Metallfadenglühlampe und den Zündstein – und war ein höchst erfolgreicher Firmengründer: seine vor mehr als hundert Jahren gegründeten „Treibacher Chemischen Werke“ und auch die Firma „Osram“ florieren auch heute wie eh und jeh.

Computer in der Mathematik

Mit dem Modellieren und den numerischen Simulationen wurden Computer zu Forschungsinstrumenten:

  • Die Anwendung der Quantenmechanik auf Probleme der Molekülstrukturen und der Molekülspektroskopie benötigt enorme Computer-Ressourcen. Die Mathematik ist hier relativ einfach, die Herausforderung liegt aber im Umfang der zu behandelnden Fragestellung.
  • In der Physik hat das Modellieren schon eine sehr lange Tradition, und ist zweifellos aufwändiger, was die mathematische Vorgangsweise betrifft.
  • Die Biologie bedient sich seit relativ kurzer Zeit – wie Chemie und Physik – ebenfalls der Großrechner, bringt jedoch neue Probleme mit sich: bis jetzt gibt es keine theoretische Biologie, die ein sicheres Gerüst für das Modellieren erstellen könnte. Ein biologisches Modell baut sich damit nicht auf einem allgemein akzeptierten theoretischen Konzept auf (wie es die Quantenmechanik für die Chemie ist), seine Erstellung benötigt empirisches Wissen, Expertise und Intuition.

Fazit

Die Revolution in der Mathematik kam nicht ganz von selbst. Sie wurde durch die spektakuläre Entwicklung der elektronischen Rechner initiiert und gesteuert. Vereinfachte mathematische Modelle lassen sich durch Computereinsatz an die notwendigerweise komplexe Realität anpassen und wurden damit interessant für Anwendungen. Die enormen Leistungen der numerischen Mathematik wären ohne die von den Nutzern ausgehenden Impulse niemals erbracht worden.


[1] Peter Schuster: Wie Computermethoden die Forschung in den Naturwissenschaften verändern. Eine Kurzfassung dieses Artikels ist im Vorjahr erschienen (PDF-Download).


Weiterführende Links

Science Education: Computers in Biology. Website des NIH mit sehr umfangreichen, leicht verständlichen Darstellungen (englisch)

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