Neuronen sind Energiefresser

Do, 23.03.2023 — Nora Schultz

Nora SchultzIcon Hirn-Energie

Das Gehirn ist der größte Energiefresser des Körpers und gleichzeitig ungemein komplex. Das Gehirn des Menschen besteht aus rund 86 Milliarden Neuronen und obwohl viel Energie in die Kommunikation über die elektrischen Impulse auf der Membran läuft, verbrauchen auch die Prozesse im Inneren der Zelle eine gehörige Menge davon. Geliefert wird sie von bestimmten Zellorganellen, den Mitochondrien – sie bilden das Hauptkraftwerk sämtlicher Körperzellen.*

„It’s the economy, stupid.“ Der Spruch, der Bill Clintons Wahlkampagne 1992 mit zum Sieg verhalf, taugt auch als Motto für das Gehirn. Denn im Kopf kommt es ebenfalls entscheidend auf die Wirtschaft an – genauer gesagt: auf die Energiewirtschaft. Ohne eine stets ausbalancierte Energiezufuhr und -verteilung gelingen keine Geistesblitze und drohen schlimmstenfalls Zelltod und bleibende Schäden im Gehirn.

Abbildung 1. Die Energieversorgung der Neuronen. Das einzelne Neuron enthält verschiedene Bereiche mit unterschiedlichen Aufgaben, und sie verzweigt sich über weite Distanzen. Dadurch wird der Transport von Substanzen innerhalb der Zelle zur Herausforderung, auch der von Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle. (Grafik MW

Knapp anderthalb Kilo gallertartige Masse im Kopf verschlingen bis zu 20 Prozent des gesamten menschlichen Energieumsatzes – allein dies zeigt, wie anspruchsvoll unser Oberstübchen ist. Unter Ruhebedingungen geht der größte Stromverbrauch– wenig überraschend – auf das Konto der Nervenzellen. Viel Rechnerei ist teuer. Das gilt nicht nur für das Schürfen von Kryptowährung, sondern auch für den Datenaustausch im Gehirn.

Neuronen verrechnen Informationen und leiten sie weiter, indem sie ständig Neurotransmitter und Ionen durch ihre Zellmembranen transportieren. Dafür müssen sie fortwährend Transportkanäle öffnen, und brauchen viel Energie, um molekulare Pumpen zu bedienen und die Kanäle wieder zu schließen.

Zwar verbrauchen auch andere Zelltypen im Gehirn viel Energie, wie etwa die ebenso zahlreichen Gliazellen. Die Nervenzellen aber ragen als Rechenkünstler hervor. Abbildung 1.

Schon ihre Gestalt regt die Fantasie an. Neurone sind halb Baumwesen, halb Alien: Der „Kopf“ eines Neurons – der Zellkörper, der den Zellkern enthält – vernetzt sich über die vielen Antennen seiner fein verästelten Krone mit unzähligen anderen Neuronen. Seine Krone ist beindruckend ausladend – ihre Arme, die Dendriten erstrecken sich beispielsweise in den besonders großen Pyramidenzellen der Großhirnrinde über mehrere hundert Mikrometer, während der Zellkörper nur 20 Mikrometer Durchmesser hat. Abbildung 2. Verglichen mit dem „Stamm“ der Zelle – dem Axon – wirken die Dendriten allerdings winzig. Gemessen an den Maßstäben anderer Zellen schlängelt sich das Axon über gigantische Distanzen von bis zu einem Meter durchs Nervensystem und dockt am Ziel über das ebenfalls stark verzweigte Wurzelwerk der Axonterminale erneut an viele Partnerzellen an.

Abbildung 2. Schematische Darstellung einer Nervenzelle und einer Helferzelle (Gliazelle). Neuronen sind auf Helferzellen angewiesen, die Blutgefäße anzapfen und vorverdauten Treibstoff an Neurone weitergeben (Bild von Redn. eingefügt, leicht modifiziert: Blausen.com staff (2014). "Medical gallery of Blausen Medical 2014". WikiJournal of Medicine 1 (2). DOI:10.15347/wjm/2014.010. Lizenz: cc-by.)

Der Bedarf

Eine durchschnittliche Nervenzelle kommt so auf zehntausende Kontaktstellen (Synapsen) mit anderen Neuronen. Jede dieser Synapsen besteht aus einem präsynaptischen Terminal – einem Knöpfchen am Ende eines Axons – das Signale weitergibt, und einem postsynaptischen Terminal in Gestalt eines „Knubbels“, das sie empfängt. Abbildung 3, Ausschnitt. Signale überqueren den Spalt zwischen den Terminalen immer in Form kleiner Moleküle, den Neurotransmittern. Am postsynaptischen Terminal werden sie von spezialisierten Empfängereiweißen (Rezeptoren) erkannt. Diese lösen dann eine Reaktion aus, die das Neuron mit vielen Signalen, die es über seine anderen Synapsen empfängt, verrechnet. Je nach Rechenergebnis feuert die Zelle dann ein Aktionspotential, bei dem sich ein elektrisches Signal in einer Kettenreaktion entlang des Axons bis in die präsynaptischen Endungen fortpflanzt und über die dort liegenden Synapsen weitere Neurone erreicht. Aktionspotentiale sind immer gleich stark, unterscheiden sich aber in ihrer Häufigkeit – von Zelle zu Zelle und Situation zu Situation. Abbildung 3.

Abbildung 3. Signalübertragung zwischen zwei Neuronen. Detail: Übertragung an der Synapse. (Bild von Redn. eingefügt: Christy Krames, MA, CMI — https://web.archive.org/web/20070713113018/http://www.nia.nih.gov/Alzheimers/Publications. Lizenz: gemeinfrei)

Die Weitläufigkeit und Gliederung der Neuronen in verschiedene Bereiche (Kompartimente) lässt erahnen, welche Herausforderungen die Energieversorgung darstellt. Es gilt, jede Menge Prozesse und Materialien im Gleichgewicht – auch Homöostase genannt – zu halten. Je nachdem, was in den einzelnen Kompartimenten eines Neurons geschieht – in den Dendriten, dem Zellkörper, dem Axon oder den Synapsen – müssen Signale und Stoffe in andere Kompartimente geschickt, nach außen abgeben oder aus der Umgebung aufgenommen werden. Sowohl die Ausschüttung und Aufnahme von Neurotransmittern als auch die Verarbeitung von Informationen und der Weitertransport von Signalen entlang des Axons gehen mit chemischen und elektrischen Veränderungen an der Zellmembran einher. Ionenkanäle öffnen oder schließen sich und lassen positiv geladene Natrium-, Calcium- oder Kaliumionen oder negativ geladene Chlorionen in die Zelle hinein- oder aus ihr herausströmen, bzw. pumpen sie aktiv von einer Seite zur andern.

Dieses dynamische Gleichgewicht in der lebenden Zelle zu beobachten, ist nicht einfach und wird erst mit neueren Methoden nach und nach möglich. Klar ist, dass der dabei fortwährende Transport von Ionen und Neurotransmittern viel Energie frisst. Im Vergleich zu menschgemachten Computern und anderen Maschinen arbeitet das Gehirn allerdings – zumindest nach aktuellem Stand der Technik – viel effizienter. Sein Energieumsatz ähnelt mit knapp 20 Watt dem einer Energiesparlampe. Ein Laptop braucht locker das Doppelte, ist aber viel weniger leistungsfähig. Der Supercomputer SpiNNaker , der circa ein Prozent des menschlichen Gehirns zu simulieren vermag, braucht dafür 100 Megawatt.

Abbildung 4. Neuronale Mitochondrien in den unterschiedlichen Kompartimenten des Neurons. (A) Mitochondrien werden mit Hilfe eines fluoreszierenden mitochondrialen Proteins (rot) sichtbar gemacht. (B) Schematische Darstellung der Kompartimente eines Neurons, wobei das lange Axon und mehrere Dendriten vom Zellkörper (Soma), der den Zellkern enthält, ausgehen. Axonale Mitochondrien sind klein und spärlich, während dendritische Mitochondrien größer sind und ein größeres Volumen des Prozesses einnehmen. Die Mitochondrien sind im Soma dicht gepackt. Maßstab: 20 µm, 10 µm in Vergrößerungen i und ii.(Bild von Redn. eingefügt; leicht modifiziert nach Seager R, et al (2020), Doi: https://doi.org/10.1042/NS20200008. Lizenz: cc-by)

Die Dienstleister

Diese Aufgabe übernehmen allen voran die Astrozyten, sternförmige Gliazellen die mit ihren Endfüßchen wie Zapfsäulen an den Blutgefäßen hängen. Die Astrozyten könne die Blutgefäße verengen und auch erweitern, und sind damit ein wichtiger Regler für den energiereichen Blutfluss. Weitere Ausläufer legen Astrozyten handschuhartig um die postsynaptischen Regionen von Nervenzellen, wo der Energiebedarf besonders hoch ist. Im Gegensatz zu Neuronen können Astrozyten Glukose gut speichern, und zwar – genau wie die Leber – in Form von Glykogen. Außerdem reichen Astrozyten die Glukose, die sie dem Blut oder aus ihren Glykogenvorräten entnehmen, nicht direkt als Treibstoff an die Neuronen weiter, sondern verstoffwechseln sie zunächst zu Milchsäure. Dieses Zwischenprodukt kann dann nach nur einem einzigen weiteren Umwandlungsschritt direkt in die Atmungskette der Mitochondrien eingespeist werden. Abbildung 4.

Andere Gliazellen, die Oligodendrozyten, spielen ebenfalls eine Rolle bei der Versorgung der Axone. Bekannter als Urheber der isolierenden Myelinschicht, die Axone umwickelt und ihre elektrische Leitfähigkeit erhöht, halten Oligodendrozyten ebenfalls als Energielieferanten her. Auch sie schütten Milchsäure aus, die Mitochondrien im Axon dann schnell verwenden können. Die Liefermenge wird dabei an den Energiebedarf angepasst: je häufiger ein Neuron feuert, desto mehr Glukosetransporter bauen die Oligodendrozyten in ihre Membran ein, und desto mehr Energie können sie aus dem Blut aufnehmen und an ihr Axon weitergeben. Dieser maßgeschneiderte Lieferdienst gelingt, weil die Oligodendrozyten über spezielle Empfangsmoleküle „hören“ können, wie aktiv ein Neuron ist. Diese NMDA-Rezeptoren (für N-Methyl-D-Asparaginsäure) erkennen nämlich eine Verbindung, die jedes Mal freigesetzt wird, wenn eine Nervenzelle ein Aktionspotential „abfeuert“.

Mit diesem komplexen Versorgungsnetzwerk aus Gliazellen, Transportkanälen und Mitochondrien schaffen Neurone es im Idealfall, ihre Energieversorgung dynamisch im Gleichgewicht zu halten. Das gelingt allerdings nicht immer. Wird der Nachschub von Glukose und Sauerstoff aus dem Blut unterbrochen oder eingeschränkt, zum Beispiel bei einem Schlaganfall, kommt es schnell zum Zelltod und zu neuronalen Funktionsstörungen. Auch Entzündungsprozesse können die sensible Balance stören oder wichtige Komponenten der Energieversorgung schädigen. Neurologische Erkrankungen wie Demenz, Multiple Sklerose und die Parkinson-Krankheit haben fast immer eine energetische Komponente. Insofern dürfte der erfolgreiche Wahlslogan der Clinton-Kampagne leicht abgewandelt auch in der Hirnforschung noch länger Bestand haben: It’s the Energieversorgung, stupid!


  * Der Artikel stammt von der Webseite www.dasGehirn.info, einer exzellenten Plattform mit dem Ziel "das Gehirn, seine Funktionen und seine Bedeutung für unser Fühlen, Denken und Handeln darzustellen – umfassend, verständlich, attraktiv und anschaulich in Wort, Bild und Ton." (Es ist ein Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe). Im Fokus des Monats März steht das Thema "Energie". Der vorliegende Artikel ist am 15.3.2023 unter dem Titel: "Energieversorgung der Neurone" https://www.dasgehirn.info/grundlagen/energie/energieversorgung-der-neurone erschienen. Der unter einer cc-by-nc-sa Lizenz stehende Artikel wurde unverändert in den Blog gestellt, die Abbildungen von der Redaktion eingefügt.


 Zum Weiterlesen

• Deitmer JW, et al: Unser hungriges Gehirn: Welche Rolle spielen Gliazellen bei der Energieversorgung? e-Neuroforum 2017, 23(1):2.12. Doi: https://doi.org/10.1515/nf.2016-1102

• Saab AS et al.: Oligodendroglial NMDA Receptors Regulate Glucose Import and Axonal Energy Metabolism. Neuron 2016 Jul; 91:119–132. Doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2016.05.016

• Seager R, et al: Mechanisms and roles of mitochondrial localisation and dynamics in neuronal function. Neuronal Signal 2020 Jun; 4(2): NS20200008. Doi: https://doi.org/10.1042/NS20200008


Artikel im ScienceBlog

Rund 60 Artikel zu verschiedenen Aspekten des Gehirns - u.a. zu den zellulären Komponenten und zur Signalübertragung - finden sich im Themenschwerpunkt Gehirn.