Kann ein Kaugummi vor COVID-19 schützen?

Kann ein Kaugummi vor COVID-19 schützen?

Fr, 09.06.2022 — Ricki Lewis

Ricki LewisIcon Medizin Mund und Rachenbereich sind Einfallstor und großes Reservoir von SARS-CoV-2. Bereits dort werden Zellen infiziert, das Virus kann sich rasend schnell vermehren und - wenn das Immunsystem erst verzögert reagiert - seinen unheilvollen Weg in Lunge und andere Organe antreten . Um die Infektion an ihrem Ursprung zu stoppen haben Forscher um Henry Daniell einen Kaugummi entwickelt, der den für das Andocken an Wirtszellen und Eindringen des Coronavirus essentiellen Rezeptor ACE2 enthält. In Labortests bewirkte dieser Kaugummi eine dramatische Reduktion von Viruslast und Infektiosität im Speichel. Vor wenigen Tagen erfolgte die FDA-Genehmigung für die klinische Erprobung des ACE2-Kaugummi in der Phase I/II .Die Genetikerin Ricki Lewis berichtet über diese neue Strategie, die auch bei anderen oral übertragenen Infektionen Anwendung finden könnte.*

Als ich in den 1960er Jahren aufwuchs, war Kaugummikauen überaus populär. Es gab Teekaugummi mit Teegeschmack und einen köstlichen Lakritzkaugummi mit einem Namen, der wahrscheinlich nicht mehr politisch korrekt ist. Trident-Kaugummi bot eine zuckerfreie Alternative, während Dentyne die Illusion von Gesundheit vermittelte. Der Apotheker Franklin V. Canning aus New York City hatte den Kaugummi 1899 erfunden, laut Verpackung "um den Atem zu versüßen und die Zähne weiß zu halten". Dentyne kombiniert geschickt "Dental" und "Hygiene".

Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Kaugummi eines Tages vor einem tödlichen Pandemievirus, SARS-CoV-2, schützen würde.

Zielorte sind Mund, Nase und Rachenraum

In seiner Funktion als Wirkstoffträger hat der Kaugummi eine Vorgeschichte.

Als Kind habe ich bei Halsschmerzen Aspergum (einen Aspirin enthaltenden Kaugummi; Anm.Redn.) gekaut, der heute von Retrobrands USA vertrieben wird. Aspirin ist allerdings ein kleines, einfaches Molekül.

"In jüngerer Zeit sind Koffein- und Nikotinkaugummis weit verbreitet. Allerdings konnte niemand Proteine mit Hilfe von Kaugummi verabreichen, weil die Kaugummibasis eine sehr hohe Temperatur benötigt, um richtig gewalzt zu werden", sagt Henry Daniell von der University of Pennsylvania School of Dental Medicine. Hohe Temperaturen würden aber die äußerst wichtige dreidimensionale Form eines Proteins, das ja eines voluminöses Molekül ist, aufbrechen. "Die höhere Temperaturstabilität von in Pflanzenzellen hergestellten Proteinen hat uns aber geholfen, diese schwierige Hürde zu nehmen", fügt Dr. Daniell hinzu.

Der von seinem Team entwickelte, vor COVID schützende Kaugummi gibt Proteine ab, die von Salatpflanzen in Hydrokultur produziert werden. Darüber berichtet das Fachjournal Molecular Therapy [1].

Der COVID-Kaugummi gibt ACE2 (Angiotensin Converting Enzyme 2) ab, ein Protein, das auf der Oberfläche von vielen unserer Zelltypen vorkommt und eine Vielzahl von Funktionen steuert. ACE2 ist der hauptsächliche Rezeptor für SARS-CoV-2: Das Virus bindet mit seinen Spikes an ACE2 und dringt in die Zellen ein. Sodann übernimmt das Virus die Kontrolle über die Zellen und schüttet seine eigenen Proteine aus, die als Toolkit zur Herstellung weiterer Viren dienen. SARS-CoV-2 vermehrt sich in den Zellen des gesamten Nasen-Rachen-Raums wie wild und wandert, wenn sich die Immunreaktion verzögert, in die Lunge. Wie der Kaugummi das Virus abffangen und damit die Infektion der Wirtszellen verhindern kann, ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1: Ein Überschuss an ACE2 im Rachenraum fängt das Corona-Virus ab. A: Der Kaugummi enthält in Pflanzen produziertes humanes ACE2, das mit CTB (Chlolera-non Toxin B subunit) fusioniert wurde - CTB-ACE2- und Bindungsstellen für RBD und GM1des Spikeproteins (B) bietet. SARS-CoV-2 bindet an lösliches ACE2 und an CTB-ACE2, das unlösliche Pentamere bildet. (Das von der Redaktion eingefügte Bild stammt aus H. Daniell et al., [1] , Figure 2 und steht unter einer cc-by-nc-nd-Lizenz)

Rationale Maßnahmen wie im öffentlichen Bereich Maskentragen und Abstandhalten halten Viren fern, das Fluten des Mundes mit ACE2-Rezeptoren, die als Köder dienen, bietet einen starken zusätzlichen Schutz. Genau das macht der Kaugummi.

Der Kaugummi kann beispielsweise im Restaurant beim Warten auf Speisen und Getränke nützlich sein; unvermittelt können ja überall virusbeladene Tröpfchen ausgespuckt werden und werden es auch. Außer Coronaviren verbreiten Tröpfchen eine ganze Reihe anderer Krankheitserreger, darunter auch Masern, HPV, Epstein-Barr-Viren und Herpesviren. Um in unsere Zellen einzudringen, binden die verschiedenen Virustypen an unterschiedliche Rezeptormoleküle.

Ein ganz klein wenig Spucke reicht aus, um an COVID zu erkranken. Ein Milliliter Speichel, etwa ein Fünftel eines Teelöffels, kann 7 Millionen Kopien des RNA-Genoms von SARS-CoV-2 enthalten. Ein Tröpfchen mit einem Volumen von nur einem Tausendstel Milliliter ist immer noch groß genug, um das Virus zu übertragen. Die Studie "The airborne lifetime of small speech droplets and their potential importance in SARS-CoV-2 transmission" liefert dazu die Messwerte [2].

Offensichtlich verhält sich SARS-CoV-2 in keiner Weise so, wie wir es erwarten. Unabhängig davon, ob eine infizierte Person Symptome hat oder nicht, kann die Viruslast im Speichel hoch sein - und viele Menschen sind tatsächlich symptomlos. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich eine hohe Viruslast in meinem Nasen-Rachen-Raum hatte, denn mein Teststreifen war innerhalb von Sekunden positiv; auch nachdem COVID ein Monat vorbei ist, kippe ich manchmal noch immer tonnenweise Gewürze auf meine Speisen, die ich nicht schmecken kann. Das Virus vermehrt sich in Speicheldrüsen und Mundschleimhäuten.

Ein Kaugummi-Antiinfektivum blockiert Rezeptoren

Beim "Chewing Gum-Topical-Delivery-Approach" wird ein Pflanzenpulver aus Salatzellen eingesetzt, welches das Protein ACE2 enthält, den Rezeptor an den SARS-CoV-2 bindet und der das Einfallstor in unsere Zellen darstellt.

ACE2-Rezeptoren übersäen normalerweise Zellen in Nase, Mund, Lunge, Herz, Blutgefäßen, Nieren, Leber und Magen-Darm-Trakt. Ist zu wenig ACE2 vorhanden, weil das Virus die Rezeptoren blockiert, führt dies zu Entzündungen, Zelltod und Organversagen, insbesondere im Herzen und in der Lunge.

Mehrere Forschergruppen arbeiten an den ACE2-Proteinen, die als Fallen für das Virus fungieren sollen. Anum Glasgow und Kollegen an der University of San Fransisco, CA beschreiben die Entwicklung einer solchen "Rezeptorfalle", die SARS-CoV-2-Spikes bindet und so von unseren Zellen fernhält. Dank Computertechnik binden die manipulierten Rezeptoren den Hotspot des viralen Spikeproteins (die rezeptorbindende Domäne) 170-mal stärker als das ursprüngliche ACE2. Und die manipulierten ACE2-Rezeptoren halten das gesamte Virus fern.

Rezeptorfallen wurden von der FDA hat noch nicht als antivirale Wirkstoffe zugelassen, mehrere Kandidaten, die ACE2 in Form eines Nasensprays verabreichen, sind aber in der Entwicklung. Dies reicht vermutlich nicht aus.

Die in Molecular Therapy beschriebene Untersuchung [1] zielt auf die Speicheldrüsen ab, die auch von mehreren anderen Viren befallen werden - Zika, Herpes simplex, Hepatitis C, Cytomegalovirus und Epstein-Barr. Und da sich SARS-CoV-2 von Subvariante zu Subvariante weiterentwickelt hat, konzentriert sich mehr davon in den Speicheldrüsen - die Viruslast bei Menschen mit der Delta-Variante ist 1.260 Mal höher als bei Menschen mit früheren Versionen des Virus, wobei ein Großteil davon in den Speicheldrüsen schwimmt.

Dr. Daniell beschreibt den Hintergrund der Erfindung und wie diese funktioniert

"Unsere Universität hat den SARS-CoV-2-mRNA-Impfstoff entwickelt, und mehrere andere Gruppen haben wichtige Beiträge geleistet, doch die meisten Entwicklungsländer sind noch nicht geimpft. Sogar gespendete Impfstoffe konnten in Afrika wegen unzureichender Kühlkettennetze nicht ausgeliefert werden. So habe ich mich entschlossen, Wege zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu finden, die ohne Kühlkette auskommen. In Pflanzenzellen hergestellte Proteine sind viele Jahre lang stabil, wenn sie bei Raumtemperatur gelagert werden. Da die orale Übertragung von SARS-CoV-2 um 3 bis 5 Größenordnungen höher ist als die nasale Übertragung - vier gesprochene Worte 'Aah' setzen mehr Viren im Aerosol frei als eine Stunde maskenfreies Atmen - und die Infektion im Rachen beginnt, sollte Kaugummi ideal sein, um Selbstinfektion und Übertragung zu verringern. Deshalb haben wir einen Kaugummi angewandt, der mit einem in Pflanzenzellen hergestellten Fallenprotein für das Virus beladen war, um SARS-CoV-2 im Speichel zu beseitigen."

Warum nicht mit einer Anti-COVID-Mundspülung gurgeln? Weil, wie jeder weiß, der schon einmal eine Stange Juicy Fruit oder ein Stück Bazooka gekaut hat, Kaugummi länger im Mund bleibt.

COVID-Kaugummi könnte auch während zahnärztlicher Eingriffe bei infizierten Patienten verwendet werden. "Dieses allgemeine Konzept könnte erweitert werden, um die Infektion oder Übertragung der meisten oralen Viren zu minimieren", schreiben die Forscher.

Testen, testen

Die Forscher haben getestet, inwieweit der Kaugummi Viren in Speichelproben von der Zunge und vom Zahnfleisch infizierter Krankenhauspatienten zu neutralisieren vermag, Orte wo die Rezeptoren besonders dicht vorliegen. Sie haben dazu den "Microbubble SARS-CoV-2 Antigen Assay" verwendet, einen Test zum Nachweis der viralen Nukleokapsidproteine, die das RNA-Genom abschirmen. Die Erhöhung des ACE2-Gehalts korrelierte mit einem Rückgang der Viruslast um bis zu 95 Prozent. Der Placebo-Kaugummi zeigte keinerlei Wirkung. Abbildung 2.

Abbildung 2: Der ACE2-Kaugummi reduziert die Viruslast in Speichelproben von Spitalspatienten dramatisch. Der Kaugummi enthielt 25 mg BCT-ACE2 bei Patient 1 und 2 und 50 mg BCT-ACE2 bei Patient 3. (Das von der Redaktion eingefügte Bild stammt aus H. Daniell et al., [1], Figure 3 und steht unter einer cc-by-nc-nd-Lizenz.)

Der Anti-COVID-Kaugummi ist - wie die Forscher schlussendlich  sagen -  "neuartig und erschwinglich und bietet Patienten in Ländern, in denen Impfstoffe nicht verfügbar oder zu teuer sind, Zeit zum Aufbau einer Immunität". Der Kaugummi kann die Menschen zu Hause und am Arbeitsplatz schützen und beim Essengehen  in die Wange geschoben oder auf höfliche Weise weggelegt werden. Und in den kommenden Monaten könnte der Kaugummi möglicherweise eine erneute Infektion verhindern - etwas, das unweigerlich passieren wird.

"Am 2. Juni haben wir die die Genehmigung der FDA für die klinische Untersuchung von ACE2-Kaugummi in Phase I/II erhalten! Die klinische Studie läuft über drei Tage an COVID-19-positiven Patienten, die zwölf Kaugummis erhalten. Mit den steigenden COVID-19-Fällen in Philadelphia sind wir nun in der Lage die klinischen Studien zu Ende zu bringen und die Herstellung und Markteinführung des Produkts zügig voranzutreiben", sagt Dr. Daniell.

Mit Hilfe von Rezeptorfallen für Viren im Kaugummi hat das Team bereits erfolgreich die Kontrolle virulenter Grippestämme untersucht und testet derzeit die Kontrolle von HPV bei Patienten mit oralem Carcinom und von Herpes bei Patienten mit Fieberbläschen, die, wie Daniell anmerkt, auf dem Universitätscampus häufig übertragen werden."Dies könnte also die nächste neue Plattformtechnologie zur Bekämpfung oraler Infektionen sein", sagt er. Der Marketingplan liegt auf der Hand.

Ich sehe der Werbung entgegen, die den antiviralen Kaugummis beiliegen wird und Bilder von Coronaviren, Pockenviren, Chikungunya und Coxsackie, Influenza und Hepatitis, Ebola und Zika und vielem mehr enthalten wird.


 [1] Henry Daniell et al., Debulking SARS-CoV-2 in saliva using angiotensin converting enzyme 2 in chewing gum to decrease oral virus transmission and infection. Molecular Therapy 30/5 May 2022. https://doi.org/10.1016/j.ymthe.2021.11.008.

[2] Valentyn Stadnytsky et al., The airborne lifetime of small speech droplets and their potential importance in SARS-CoV-2 transmission. PNAS May 13, 2020, 117 (22) 11875-11877 . https:// https://doi.org/10.1073/pnas.2006874117.


 * Der Artikel ist erstmals am 2.Juni 2022 in PLOS Blogs - DNA Science Blog unter dem Titel "Can Chewing Gum Protect Against COVID?"

 https://dnascience.plos.org/2022/06/02/can-chewing-gum-protect-against-covid/ erschienen und steht unter einer cc-by Lizenz . Die Autorin hat sich freundlicherweise mit der Übersetzung ihrer Artikel durch ScienceBlog.at einverstanden erklärt, welche so genau wie möglich der englischen Fassung folgen. Abbildungen 1 und 3 plus Legenden wurden von der Redaktion aus der zitierten Originalarbeit [1] eingefügt.


 

inge Thu, 09.06.2022 - 19:01

Comments

Dr. Henry Daniell ist Professor and Direktor of Translational Research an der University of Pennsylvania.

Daniell  hat Pionierarbeit auf dem Gebiet der Chloroplasten-Gentechnik geleistet, die eine neue Plattform zur Herstellung und oralen Verabreichung kostengünstiger Impfstoffe und biopharmazeutischer Produkte darstellt, welche in Pflanzenzellen bioverkapselt sind. Nature Biotechnology  zählt diese Technologie zu den zehn besten Erfindungen des letzten Jahrzehnts.

Daniell wird von Biomed Central zu den 100 wichtigsten Autoren der Welt gezählt. Er hat >250 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht (h-Faktor 209) und ist Inhaber von > 100 weltweiten Patenten.  Henry Daniell ist Träger zahlreicher Auszeichnungen.

Sein Konzept erklärt er in:

Delivering Medicine Through Lettuce, World Altering Medical Advancements  (2014), Video 3:59 min. https://www.youtube.com/watch?v=6z7qwwtHQTY

Interview mit H. Daniell über COVID-Gum:

Pennsylvania researchers developing gum that could reduce COVID transmission (12.2021). Video 6:27 min. https://www.youtube.com/watch?v=k4f8jqIugS4