Wie Zellen die Verfügbarkeit von Sauerstoff wahrnehmen und sich daran anpassen - Nobelpreis 2019 für Physiologie oder Medizin

Do, 10.10.2019 — Inge Schuster

vIcon WissenschaftsgeschichteDen diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten drei Forscher - die US-Amerikaner William G. Kaelin Jr. und Gregg L. Semenza und der Brite Sir Peter J. Ratcliffe -, die einen der für unser Leben wichtigsten Anpassungsprozesse aufgeklärt haben. Es ist der überaus komplexe Mechanismus mit dem sich Körperzellen in ihrem Metabolismus und ihren physiologischen Funktionen an unterschiedliche Sauerstoffgehalte adaptieren. Auf der Basis dieser Mechanismen lassen sich auch neue therapeutische Strategien entwickeln: zur Behandlung von Anämien gibt es bereits ein am Markt zugelassenes Produkt, erfolgversprechende Möglichkeiten im Bereich von Krebserkrankungen befinden sich erst am Anfang der Entwicklung.

Als auf unserer Erde vor rund 3,8 Milliarden Jahren Leben in Form einfachster einzelliger Organismen (Bakterien und Archäa) entstand, lag Sauerstoff zunächst in Form von Wasser gebunden in den Meeren vor. Erst vor etwa 2 Milliarden Jahren kam es zu einem unglaublichen Anstieg des Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre - dem „Great Oxidation Event“ -, der vermutlich auf die Entstehung von Cyanobakterien zurückzuführen ist, die zur Energiegewinnung Photosynthese betrieben und dabei Sauerstoff freisetzten. Gegen das reaktionsfreudige, für damalige Lebensformen toxische Gas entwickelten diese  einerseits Entgiftungsmechanismen, andererseits begannen einige Bakterien Sauerstoff zur Energiegewinnung zu verwenden, indem sie Nahrungsmoleküle unter hohem Energiegewinn (in Form der metabolischen Energiewährung ATP) oxydierten - "verbrannten". Es waren dies zelluläre Kraftwerke, die später als Mitochondrien in die Zellen höherer Lebewesen integriert wurden und nun über Citratcyclus und Atmungskette den Großteil der von den Zellen benötigten Energie liefern.

Alle Zellen sind somit auf ausreichende Sauerstoffzufuhr angewiesen; ein Mangel an Sauerstoff - Hypoxie - kann zur energetischen Unterversorgung und bis zum Zelltod führen: ein Umschalten auf die anaerobe Glykolyse liefert pro abgebautem Glukosemolekül ja nur ein Sechzehntel der Energie, wie die Zellatmung. Wie die Zellen aber selbst Veränderungen der Sauerstoffzufuhr wahrnehmen und darauf reagieren, blieb bis zu den Untersuchungen der drei neuen Nobelpreisträger ein Rätsel. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war das Hormon Erythropoietin .

Von Erythropoietin (EPO) zum Hypoxie induzierendem Faktor (HIF)

Bei niedrigem Sauerstoffpartialdruck im Blutkreislauf - beispielsweise nach Blutverlust oder bei Aufenthalten in größeren Höhen - springt die Synthese von Erythropoietin (EPO) vor allem in der Niere an. Erythropoietin wirkt als Wachstumsfaktor auf die Bildung von Erythrozyten, die dann in höherer Zahl  vorliegen und via Hämoglobin insgesamt mehr Sauerstoff transportieren.

Wodurch dieses Anspringen der Erythropoietin Expression ausgelöst wird, hat Gregg Semenza (John Hopkins University, Baltimore) in den frühen 1990er Jahren herausgefunden. In Tierversuchen konnte er einen DNA-Abschnitt in der Nähe des EPO-Gens identifizieren, der bei Hypoxie den Response auslöst (von Semenza als Hypoxie Response Element (HRE) bezeichnet). In Leberzellkulturen fand er an diesen DNA-Abschnitt zwei Signalproteine gebunden vor: ein bereits bekanntes, konstitutiv vorhandenes Protein ARNT (aryl hydrocarbon receptor nuclear translocator) - und ein anderes, unter Hypoxie vermehrt gebildetes Protein, das er mit Hypoxie induzierbarer Faktor (HIF; jetzt  HIF-1α genannt) bezeichnete.

In weiterer Folge haben Semenza und davon unabhängig Peter Ratcliffe (University of Oxford, UK) eine Induktion von HIF durch Hypoxie nicht nur in EPO-produzierenden Nierenzellen sondern in einer Vielzahl tierischer Zelltypen aufgefunden - ein Hinweis, dass man möglicherweise einem universellen Steuermechanismus auf der Spur war.

Labilität von HIF-1α spielt zentrale Rolle

Wie aus anderen Untersuchungen hervorgegangen war, werden HIF-1α-Spiegel nicht über die Synthese sondern über den Abbau reguliert. HIF-1α ist ein labiles Protein, das unter normalen Sauerstoffdruck sehr rasch mit Ubiquitin markiert und dann über die Maschinerie des Proteasoms abgebaut wird. Solange also der Sauerstoffspiegel hoch ist, enthalten Zellen nur sehr wenig HIF-1α.

Sinkt der Sauerstoffspiegel aber, so steigt die HIF-1α-Konzentration im Cytosol, das Protein wandert in den Zellkern, bildet mit ARNT einen Komplex, der an HRE-Abschnitte der DNA bindet und die Expression von EPO (und vielen anderen Genen) auslöst.

Was aber kontrolliert den HIF-1α-Spiegel?

Hier kam die entscheidende Antwort von dem Krebsforscher William Kaelin (Dana-Farber Cancer Institute, Boston), der die seltene erbliche von-Hippel-Lindau-Krankheit untersuchte (VHL-Krankheit verursacht gutartige Angiome im Bereich der Netzhaut des Auges und des Kleinhirns) und zufällig einen Zusammenhang zwischen dem VHL-Gen und der Hypoxie-Regulierung fand: der Wildtyp des Gens VHL kodiert für ein Tumor-Suppressor Protein, Tumorzellen, die mutiertes - funktionsloses - VHL enthalten, weisen enorm hohe Konzentrationen an Proteinen auf , die durch Hypoxie induziert werden. Diese Level normalisieren sich, wenn in die Zellen intaktes VHL eingebracht wird. Die Suche nach Proteinen, die mit VHL interagieren ergab, dass es Teil des Komplexes ist, welcher Proteine mit Ubiquitin für den nachfolgenden Abbau im Proteasom markiert.

Der Sauerstoff-Schalter

Als letzten Teil des Puzzles zeigten nun Ratcliffe und Kaelin, dass VHL direkt mit HIF-1α interagieren kann. Voraussetzung dafür ist die Modifizierung von HIF-1α  durch Prolin-Hydroxylasen, die bei normalem Sauerstoffdruck an zwei spezifischen Stellen (Prolinresten) von HIF-1α Sauerstoff einführen; dieses nun hydroxylierte Protein bindet mit hoher Affinität an VHL und tritt damit in den Pfad zum Abbau ein.

Bei Sauerstoffmangel fehlt den die Prolin-Hydroxylasen das Substrat Sauerstoff, HIF-1α bleibt unverändert, bindet nun nicht an VHL und wird in Folge nicht abgebaut. HIF-1α akkumuliert und wirkt im Komplex mit ARNT als Transkriptionsfaktor für eine Vielzahl von Genen, welche - über Hypoxie-Response-Elements reguliert - die Zelle an die veränderte Situation anzupassen versuchen.

Eine Zusammenfassung der zellulären Anpassung an Sauerstoffmangel ist in Abbildung 1 vereinfacht dargestellt.

Abbildung 1. HIF-1α ist der zentrale Player in der Anpassung an Veränderungen in der Sauerstoffversorgung. Unter normaler Sauerstoffversorgung der Zelle (oben) wird HIF-1α durch Prolin-Hydroxylasen modifiziert, wodurch es mit VHL interagieren kann, das als Teil des Ubiquitierungskomplexes HIF-1α, für den Abbau im Proteasom markiert. Unter Sauerstoffmangel (unten) bleibt HIF-1α intakt, akkumuliert und induziert im Komplex mit ARNT die Bildung zahlreicher Proteine, welche die Zelle an die veränderten Bedingungen anzupassen versuchen (Bild leicht modifiziert nach: Wikipedia, Dr. Guido Hegasy , cc-by-sa Lizenz)

HIF-1α, Target-Gene…

Unter Hypoxie reguliert HIF-1α die Expression Hunderter Gene, welche ein HRE-Motiv enthalten. Es sind dies Gene, welche bei vielen Krankheiten, insbesondere bei Krebserkrankungen eine wesentliche Rolle spielen.

Hypoxie ist ja ein wesentliches Merkmal solider Tumoren, diese exprimieren vermehrt HIF-1α, das nun wiederum Gene induziert, welche den Tumor aggressiver machen und die Prognose verschlechtern. Es sind dies Gene, die für die Proliferation der Zellen wesentlich sind, für den zellulären Stoffwechsel (wo u.a. auf die anaerobe Glykolyse geschalten wird) , für die Neubildung von Gefäßen (Angiogenese), für Aspekte von Entzündung und Immunität, für Invasion und Metastasierung von Tumorzellen, für die Resistenzentstehung gegen therapeutische Strategien (Chemotherapie, Bestrahlung, Immunotherapie) und für das Überleben von Cancer-Stammzellen (aber auch von normalen Stammzellen).

Abbildung 2 soll einen ganz groben Eindruck über die Vielfalt der regulierten Gene geben.

Abbildung 2. Target Gene von HIF und ihre Rolle in der Progression und Therapieresistenz von Krebserkrankungen (Die Abkürzungen bedeuten in alphabetischer Reihenfolge: ALDA, aldolase A; ALDC, aldolase C; ADM, adrenomedullin; ABCG2, ATP-binding cassette sub-family G mem­ber 2; CATHD, cathepsin D; CCL, chemokine (C-C motif) ligand; CTLA-4, cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4; CXCL, chemokine (C-X-C motif) ligand; ENG, endoglin; ET1, endothelin-1; FN1, fibronectin 1; FOXP3, forkhead box P3; GAPDH, glyceraldehyde-3-P-dehydrogenase; GITR, glu­cocorticoid-induced TNFR-related protein; GLUT, glucose transporter; HK, hexokinase; HIF, hypoxia-inducible factor; HLA-G, human leukocyte antigen G; IGF2, insulin-like growth factor 2; IGF-BP, insulin-like growth factor binding protein; LDHA, lactate dehydrogenase A; LRP1, LDL-recep­tor-related protein 1; MDR1, multidrug resistance 1; MMP2, matrix metal­loproteinase 2; NF-κB, nuclear factor kappa-light-chain-enhancer of acti­vated B cells; NOS2, nitric oxide synthase 2; OCT4, octamer-binding transcription factor 4; PD-L1, programmed death-ligand 1; PFKBF3, 6-phosphofructo-2-kinase/fructose-2,6-biphosphatase-3; PFKL, 6-phos­phofructokinase, liver type; PGK1, phosphoglycerate kinase 1; PKM, pyru­vate kinase M; TGF, transforming growth factor; VEGF, vascular endothe­lial growth factor; VEGFR, VEGF receptor.) Das Bild stammt aus: Tianchi Yu et al., Development of Inhibitors Targeting Hypoxia-Inducible Factor 1 and 2 for Cancer Therapy,Yonsei Med J 2017 May;58(3):489-496 , https://doi.org/10.3349/ymj.2017.58.3.489 . Es steht unter einer cc-by-nc 4.0 Lizenz.

…und therapeutische Strategien

Auf Basis der von Semenza, Rathcliffe und Kaelin erarbeiteten molekularen Grundlagen, welche eine umfassende Beschreibung von HIF geben - seine Bildung, seine Funktion als Transkriptionsfaktor und die Schritte, die zum Abbau führen - können therapeutische Strategien entwickelt werden, die einerseits die Blockierung der HIF-Funktion und andererseits deren Steigerung zum Ziel haben.

Eine Steigerung der HIF-Funktion kann bei unterschiedlichen Krankheiten von Vorteil sein. Dazu gehören neben chronischen Nierenerkrankungen, die zur Anämie führen beispielsweise auch Wundheilung, Knorpelbildung und ein Reihe immunologischer Defekte. Unter den therapeutischen Ansätzen sind hier besonders Inhibitoren der Prolylhydroxylasen zu erwähnen. Mehrere Substanzen befinden sich in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Entwicklung. Mit Roxadustat, das FibroGen gemeinsam mit Astellas und AstraZeneca entwickelte, wurde heuer das erste oral wirksame Produkt  global zugelassen; die Indikationen sind Anämien ausgelöst durch chronische Nierenerkrankungen und myelodysplastisches Syndrom.

Die Blockierung der HIF-Funktionen kann vor allem bei Tumorerkrankungen aber auch bei Herz-Kreislauferkrankungen (Ischämien bei Schlaganfall und Herzinfarkt) oder bei Lungenhochdruck neue wirksame Therapien eröffnen. Hier gibt es auch eine Fülle von Ansatzpunkten, die von einer Blockierung der Expression der HIF-1a--mRNA, über eine Inhibierung der Dimeren-Bildung mit ARNT und Bindung an die DNA bis hin zur Inhibierung der Akkumulation von HIF-1α reichen. Bis jetzt haben allerdings nur ganz wenige dieser Inhibitoren Eingang in klinische Pilotstudien gefunden, die meisten Projekte sind noch in frühen präklinischen Phasen. Auf ein HIF-1α-basiertes Krebstherapeutikum wird man wohl noch sehr lange warten müssen. 


Weiterführende Links

MLA style: Press release: The Nobel Prize in Physiology or Medicine 2019. NobelPrize.org. Nobel Media AB 2019. Wed. 9 Oct 2019.

The Nobel Prize in Physiology or Medicine 2019: How cells sense and adapt to oxygen availability. Advanced Information.

2016 Albert Lasker Basic Medical Research Award Video 5:54 min.

William Kaelin, Peter Ratcliffe, and Gregg Semenza are honored for the discovery of the pathway by which cells from humans and most animals sense and adapt to changes in oxygen availability – a process essential for survival.

Noble Prize, Physiology or medicine 2019 | How cells, sense and adapt to oxygen availability. Quick Biochemistry Basics , Video 4:01 min.