Eisendämmerung — Wie unsere Werkstoffe komplexer und intelligenter werden

Fr, 05.07.2013 - 08:03 — Gottfried Schatz

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Themenschwerpunkt: Synthetische Biologie — Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts?

Die Verwendung von in der Natur vorkommenden Materialien wird abgelöst durch den Einsatz von Werkstoffen, welche biologische Strukturen und Funktionen nachahmen und optimieren. Insbesondere verspricht der Nachbau lebender Zellen ein ungeheures Potential an Anwendungsmöglichkeiten. Im Laboratorium massgeschneiderte Lebewesen könnten viel effizienter als natürliche das Sonnenlicht einfangen, Äcker biologisch düngen, Umweltgifte zerstören oder Erze an unzugänglichen Orten schürfen.

Zwei wissenschaftliche Revolutionen haben mein Leben geprägt: molekulare Biologie und digitale Elektronik. Jetzt erlebe ich eine dritte: die Revolution der intelligenten Werkstoffe. Seit Jahrtausenden waren unsere Werkstoffe die vorgegebenen Produkte der Natur. Heute ersinnen wir sie im Laboratorium, fertigen sie aus chemisch reinen Ausgangsstoffen und versehen sie mit Information zur Erfüllung bestimmter Aufgaben. Diese Revolution macht selbst unsere edelsten Stähle zu altem Eisen. Eisen ist immer noch unser Werkstoff par excellence, wenn auch Aluminium, Magnesium, Titan, Glas und Keramik ihm immer häufiger den Boden streitig machen. Sie alle sind jedoch, ebenso wie Eisen selbst, nur verfeinerte, umgeformte oder miteinander vermischte Naturstoffe. Doch als 1909 der Belgier Leo H. Baekeland aus zwei reinen Chemikalien das vollsynthetische Plastic-Harz Bakelit schuf, begann ein neuer Abschnitt unserer Zivilisation – und das Ende der Eisenzeit.

Zwei Jahrzehnte später erfand der Deutsche Walter Bock den künstlichen Kautschuk Buna und der Amerikaner Wallace Carothers die künstliche Faser Nylon. Beide Werkstoffe waren lange Ketten aus chemisch reinen Bausteinen, die sich aus Kohle, Wasser und Luft gewinnen liessen. Nylon wurde zur Ikone der Nachkriegszeit: die Flagge, die Neil Armstrong im Namen der Menschheit auf dem Mond hisste, war aus Nylon. Dem Nylon folgte eine Vielzahl vollsynthetischer Stoffe mit erstaunlichen Eigenschaften. Wir konnten diese Eigenschaften nach Wunsch verändern, da wir wussten, wie sie von der Struktur abhingen.

So grossartig diese Werkstoffe auch waren – verglichen mit denen lebender Zellen waren sie geradezu vorsintflutlich. Je mehr wir über die Chemie des Lebens lernten, desto deutlicher erkannten wir die fast unvorstellbare Komplexität lebender Zellen. Die immense Information zum Bau einer menschlichen Zelle ist in unserem Erbgut gespeichert – fadenförmigen Riesenmolekülen aus DNA, welche die Baupläne für mindestens 25 000, vielleicht sogar 100 000 verschiedene Eiweisstypen tragen. Eiweisse haben eine viel komplexere Struktur als eine Nylonfaser und können deshalb vielfältigere und anspruchsvollere Aufgaben erfüllen.

Bioaktive Implantate

Chemiker inspirieren sich an diesem Beispiel und bauen heute hochkomplexe Werkstoffe, die Information für bestimmte Aufgaben tragen. Eindrückliches Beispiel dafür ist eine neue Generation bioaktiver, signaltragender Implantate. Viele dieser Signale sind Eiweisse, die einer Zelle befehlen «Höre auf zu wachsen, denn jetzt bin ich hier»; oder «Wachse möglichst schnell in meine Richtung, damit wir gemeinsam ein festes Gewebe bilden können». Jedes Gewebe unseres Körpers – selbst ein Knochen – ähnelt einem summenden Bienenschwarm, in dem unaufhörlich Informationen in Form von Eiweissen und anderen Botenstoffen hin und her schwirren. Bioaktive Implantate beherrschen einige Worte dieser Zellsprache und können sich so in die Gespräche zwischen Zellen einschalten. Die Oberfläche von Knochenimplantaten trägt manchmal auch winzige, sorgfältig geplante Dellen oder Rillen, da Zellen nicht nur auf chemische Signale, sondern auch auf die Feinstruktur einer Oberfläche ansprechen. Diese neuen Implantate sind also wesentlich informationsreicher und damit intelligenter als ihre Vorläufer. Sie werden Gewebe zunächst ersetzen, dann seine Heilung anregen und sich schliesslich auflösen.

Nachbau lebender Zellen

Wissenschaft lebt jedoch nicht nur von Erkenntnissen, sondern auch – und vielleicht vor allem – von Träumen. Einer dieser Träume ist es, die informationsreichste aller Materieformen nachzubauen: eine lebende Zelle. Dies hätte nicht nur philosophische Brisanz, sondern auch praktische Auswirkungen. Im Laboratorium massgeschneiderte Lebewesen könnten viel effizienter als natürliche das Sonnenlicht einfangen, Äcker biologisch düngen, Umweltgifte zerstören oder Erze an unzugänglichen Orten schürfen.

Wie einfach kann eine lebende Zelle sein? Biologen entdeckten vor kurzem ein Bakterium, das lediglich 182 Eiweisstypen besitzt [1]. Es ist das einfachste Lebewesen, das wir kennen. Wegen seiner kümmerlichen Eiweiss-Aussteuer kann es viele seiner eigenen Bausteine nicht mehr herstellen und muss deshalb als Parasit im Inneren von Insektenzellen hausen. Wahrscheinlich dürfte ein frei lebendes Bakterium aber nur wenig mehr Eiweisstypen benötigen – vielleicht nur zwei- bis vierhundert –, um frei leben zu können.

Das entsprechende Erbgut können wir schon jetzt im Laboratorium bauen. Vor einigen Jahren synthetisierte der amerikanische Molekularbiologe Craig Venter mit chemischen Robotern das vollständige Erbgut eines Virus und konnte damit lebende Zellen infizieren und töten. Vor drei Jahren gelang es dann der Gruppe um Craig Venter das wesentlich größere Erbgut eines freilebenden Bakteriums (Mycoplasma mycoides) im Labor zu synthetisieren, mit diesem das Erbgut in einer anderen Bakterienart (Mycoplasma capricolum) zu ersetzen und damit zum ersten Mal von Menschenhand ein halbsynthetisches Lebewesen zu erschaffen [2].

Die vielseitigste Materie

Die nächsten Schritte werden wahrscheinlich davon bestimmt, wofür wir das neue Lebewesen einsetzen wollen. Wenn es ein Umweltgift zerstören soll, könnten wir zunächst ein möglichst einfaches Bakterium auswählen, das dieses Gift abbauen kann. Wir könnten die für Fortpflanzung und Giftabbau notwendigen Teile des Bakterien-Erbguts mit chemischen Methoden auf höchste Leistung steigern und dann ein Erbgut herstellen, das nur noch diese optimierten Teile enthält. Mit diesem massgeschneiderten Erbgut könnten wir schliesslich das ursprüngliche Erbgut des Bakteriums ersetzen.

Ethiker sehen dabei keine Probleme, doch die Vision von «künstlichem Leben» weckt unweigerlich Ängste. Wie schon in der Frühzeit der Biotechnologie wird es strenge Regeln brauchen, um unvorhersehbare Unfälle mit diesen halbsynthetischen Lebensformen (oder sind es Werkstoffe?) zu verhindern. Sehr viel später werden wir es wahrscheinlich wagen, vollsynthetische einzellige Lebewesen zu schaffen und ihnen Eigenschaften zu geben, die uns heute unvorstellbar sind.

Lebende Zellen sind die vielseitigste und informationsreichste Materie, die wir kennen. Sie ist das Ergebnis von fast vier Milliarden Jahren Entwicklung und zeigt uns den Weg zu den Werkstoffen kommender Generationen. Ist es Hybris, sie nachzubauen und dann für unsere Ziele umzuformen? Dürfen wir Welten betreten, die wir bisher als göttlich scheuten? Und werden lebensähnliche Werkstoffe die Spitzentechnologie unserer Enkelkinder prägen? Die Revolution der intelligenten Werkstoffe hat kaum begonnen – und dennoch bauen wir bereits an künstlicher Materie, die um viele Grössenordnungen informationsreicher ist als alles, was wir bisher geschaffen haben. Warum sind wir Menschen nie zufrieden? Könnte es sein, dass informationsreiche Materie stets nach mehr Information hungert? Und wäre dies nicht wunderbar?


[1] Nakabachi, A., Yamashita, A., Toh, H., Ishikawa, H., Dunbar, H., Moran, N. & Hattori, M. The 160-kilobase genome of the bacterial endosymbiont Carsonella. Science 314, 267 (2006). http://www.sciencemag.org/content/314/5797/267.full.pdf
[2] Gibson D.G. et al., Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome. Science 329, 52-56 (2010). http://www.sciencemag.org/content/329/5987/52.full.pdf


Anmerkungen der Redaktion

Zum Themenschwerpunkt Synthetische Biologie sind bis jetzt erschienen: Redaktion: Themenschwerpunkt: Synthetische Biologie — Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts?

Uwe Sleytr: Synthetische Biologie – Wissenschaft und Kunst

Wolfgang Knoll: Die biomimetische künstliche Nase – wie weit sind wir? Teil 1: Künstliche Sensoren nach dem natürlichen Vorbild unserer fünf Sinne Teil 2. Aufbau und Funktion physiologischer Geruchssensoren Teil 3: Konstruktion einer biomimetischen Nase

Michael Graetzel: Der Natur abgeschaut: Die Farbstoffsolarzelle

Gerhard Wegner: Anmerkungen eines Laien zur Synthetischen Biologie – Teil 1, Anmerkungen eines Laien zur Synthetischen Biologie – Teil 2

Karin Saage & Eva Katrin Sinner: Was ist und was bedeutet für uns die Nano-Biotechnologie?

Weiterführende Links

 Craig Venter unveils "synthetic life" Video 18.18 min (2010, in Englisch, deutsche Untertitel) http://www.ted.com/talks/craig_venter_unveils_synthetic_life.html (from TEDTalks: a daily video podcast from the TED Conference, where the world's leading thinkers and doers give the talk of their lives in 18 minutes.)

Synthetische Biologie - Leben schaffen im Labor Video 7:02 min (2010, in Deutsch) http://www.youtube.com/watch?v=HHayuBHYjvk

Synthetische Biologie erklärt Video 6:38 min (2012, in Deutsch) Eine hervorragende Broschüre: Synthetische Biologie: Eine Einführung. Zusammenfassung eines Berichts des European Academies Science Advisory Council (EASAC). 2011. (PDF-Download)