Der "Stammbusch" der Menschwerdung

Do, 17.01.2019 - 09:06 — Herbert Matis

Herbert MatisIcon BiologieWann und wie ist der Übergang vom Tier zum Menschen erfolgt? Die Vorstellung eines linearen Stammbaums, der von Vormenschen und Frühmenschen bis zum Homo sapiens führt, ist durch neue Funde von Fossilien und Werkzeugen nicht mehr haltbar. Stattdessen haben über lange Zeiträume mehrere (Vor)Menschenarten parallel existiert und sich auch untereinander gekreuzt - der Stammbaum ist also ein verzweigter Stammbusch. "Das Mosaik der Menschwerdung", ein faszinierendes neues Buch des deutschen Biophysikers und Wissenschaftshistorikers Dierk Suhr, fasst den aktuellen Stand der Forschung zusammen und versucht ein Gesamtbild der Humanevolution zu zeichnen [1]. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Herbert Matis (emer. Prof. Wirtschaftsuniversität Wien) bespricht dieses Buch.

Bis vor wenigen Jahren schien die Entstehung der Gattung Mensch weitgehend geklärt, und der menschliche Stammbaum erschien, bis auf einige wenige missing links, vollständig in einer linearen Abstammungslinie darstellbar: Entstanden in Afrika, soll sich unsere Gattung in einer aufsteigenden Linie vom Vor- und Frühmenschen, über den Urmenschen bis hin zum modernen Homo sapiens entwickelt haben. Auslöser dieser Entwicklung sollen der Übergang zum aufrechten Gang, die Fähigkeit zur Werkzeugherstellung und das- nicht zuletzt durch neue Nahrungsquellen beförderte - Hirnwachstum gewesen sein.

Doch so einfach stellt sich die Sachlage nach aktueller Forschung nicht mehr dar: Neue Fossil- und Werkzeugfunde zeigen, dass Vormenschen sich schon Millionen Jahre auf zwei Beinen fortbewegten – ohne nachweisbare Fortentwicklung oder wachsende Gehirne; dass die Werkzeugherstellung älter ist als die Gattung Homo; dass über lange Zeiträume mehrere Menschenarten parallel existierten.

Ein verzweigter ›Stammbusch‹,…

Die neuen Erkenntnisse der Paläogenetik machten aus dem bisherigen übersichtlichen ›Stammbaum‹ einen verzweigten ›Stammbusch‹ mit zum Teil bisher unbekannten Menschenarten, die sich nachweislich untereinander kreuzten. Archaische Hominiden haben somit genetisch zum Genpool des modernen Homo sapiens beigetragen. Dessen Gene lassen sich nicht ausschließlich von einer einzigen isolierten Population ableiten, sondern von verschiedenen Vorfahren, die unterschiedliche ökologische Nischen in und außerhalb der afrikanischen Pleistozän-Landschaft besetzten. Es gibt also keine durchgehende Abstammungslinie, in die sich die einzelnen Fossilfunde einordnen lassen, vielmehr müssen wir von verschiedenen untereinander verflochtenen geographischen und zeitlichen Varianten von homininen Arten ausgehen.

…der noch nicht geklärt ist

Der ›Stammbusch‹ des Menschen ist heute somit keinesfalls geklärt – und die Unsicherheit nimmt aktuell eher zu als ab: Neue Funde bringen oft unerwartete Hinweise auf mögliche Verzweigungen (Bifurkationen) und damit neue Diskussionen über mögliche Verwandtschaftsverhältnisse und neue Hypothesen zur Menschwerdung, auch sind viele Fossilien in ihrer Einordnung umstritten. Dazu kommt, dass die mit Hilfe der sog. molekularen Uhr erstellten Angaben zu den Zeitpunkten der Aufspaltung von einzelnen Abstammungslinien oft um mehrere Millionen bzw. hunderttausende Jahre differieren, weshalb diese nur Näherungswerte liefern. Neuere molekularbiologische und paläoanthropologische Erkenntnisse haben unser Bild von der Abstammung des Menschen in den letzten Jahren stark verändert.

Das Mosaik der Menschwerdung

Das hier besprochene neue Buch von Dierk Suhr zeichnet den aktuellen Stand der Forschung nach und versucht, aus den einzelnen Mosaiksteinen an alten und neuen Erkenntnissen ein Gesamtbild der Menschwerdung zusammenzufügen. Abbildung 1.

Abbildung 1. Dierk Suhr (2018), Das Mosaik der Menschwerdung. Vom aufrechten Gang zur Eroberung der Erde: Humanevolution im Überblick [1].

Wie begann alles?

Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?

Diese für das Leben sinnstiftenden Fragen nach Herkunft und Bestimmung des Menschen beschäftigen uns wohl schon seitdem die Gattung Mensch die Fähigkeit zur Selbstreflexion besitzt. Schon seit grauen Vorzeiten versuchte man, in überlieferten Mythen und Sagen sowie in religiösen Weltdeutungen Antworten auf solche essentiellen Fragen zu finden. Gemeinsam ist diesen tradierten Narrativen, dass sie im Allgemeinen von einem singulären Schöpfungsakt und einer damit vorgegebenen Konstanz der Arten ausgehen, und dass sie vielfach den Menschen als den End- und Höhepunkt der Schöpfung betrachten und ihm somit eine Sonderstellung unter allen Lebewesen einräumen.

In seinem 236 Seiten starken Werk, das sowohl in gedruckter als auch in digitaler Fassung vorliegt, versucht der deutsche Wissenschaftshistoriker und Biophysiker Dierk Suhr wichtige Aspekte der Menschwerdung vorzustellen. Er greift dazu weit über das eigentliche Thema hinaus und geht zurück bis zum Ursprung des Universums mit dem ›Urknall‹ vor etwa 13,7 Mrd. Jahren, der Entstehung der ersten Spiral-Galaxien aus durch Kernfusion gebildeten Sternen vor etwa 8,8 Mrd. Jahren, der Ausformung unseres Sonnensystem mir seinen Planeten vor 4,6 Mrd. Jahren, bis hin zur Entstehung der ersten Formen organischen Lebens auf dem Planet Erde.

Biologische Evolution über 4 Milliarden Jahre und…

Von den ersten Anfängen des Lebens bis zur Entwicklung der heutigen biologischen Vielfalt, von den ersten Einzellern bis zur Entstehung des Menschen sind rund vier Milliarden Jahre der ›biologischen Evolution‹ vergangen.

Der Mensch nimmt dabei im biologischen System der Organismen keine Sonderstellung ein und er ist auch nicht der Endpunkt des prinzipiell offenen Evolutionsprozesses. Und trotzdem scheint diese Gattung Mensch etwas Besonderes zu sein, denn sie hat sich im Zuge der ›kulturellen Evolution‹ diesen Planeten Erde und alles andere Leben darauf untertan gemacht – etwas, das keiner anderen Tierart »im natürlichen phylogenetischen System der Organismen« (G. Heberer) gelungen ist.

…akzelerierte Evolution durch den Menschen wird möglich

Der Mensch hat sich zuletzt als erste Spezies mit dem in der jüngsten Zeit entwickelten neuesten molekularbiologischen Methodenkomplex (Sequenzierung des Genoms, CRISPR/cas9 und genome editing) in die Lage versetzt, an der Basis seiner eigenen genetischen Ausstattung gezielt zu manipulieren, und damit gleichsam ein neues Zeitalter einer akzelerierten Evolution einzuleiten: Es ist nicht mehr alleine die gesamte Umwelt, die den Selektionsdruck (Survival of the fittest) ausmacht, sondern der Mensch selbst tritt plötzlich in einer Art Feedback-Schleife in den Mittelpunkt das Selektionsmechanismus.

Durch die Fortschritte in der synthetischen Biologie wird es möglich, dass der Mensch erstmals die Möglichkeit erhält, in den Prozess der Evolution selbst aktiv einzugreifen, indem er mittels molekularbiologischer Methoden das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen verändert. Es wird dabei nicht ausgeschlossen, dass auf diese Weise auch neue Arten entstehen könnten. Der 2002 von Paul Crutzen und Eugene F. Stoermer in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführte Begriff für ein das Holozän ablösendes neues Erdzeitalter Anthropozän, der zum Ausdruck bringt, dass der Mensch selbst nunmehr zum wesentlichen Einflussfaktor gravierender geologischer, ökologischer und atmosphärischer Veränderungen der Lebensumwelt geworden ist, wird damit durch den aktuellen Paradigmenwandel in der Biologie ergänzt und erweitert.

Wann wird der Mensch zum Menschen?

Angesichts dieser Situation ist es interessant, sich des Ausgangspunkts der Menschwerdung zurückzubesinnen: Wann wird der Mensch zum Menschen?

Was unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen?

Die Erforschung des Ursprungs des Menschen sieht sich allerdings mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sämtliche Hypothesen über den Menschwerdungsprozess bloß auf Grundlage von einzelnen beobachtbaren Fakten zu erklären sind, und man versuchen muß, aus einzelnen mit Mosaiksteinchen vergleichbaren paläontologisch-historischen Fundmaterialien ein konsistentes Gesamtbild von der Stammesgeschichte des Menschen zu entwickeln.

Es erscheint heute demgemäß plausibel, dass die Trennung der zu Homo und zu den Schimpansen führenden Entwicklungslinien erst vor 5 bis 6 Millionen Jahren erfolgte, und in Ostafrika im oberen Pleistozän vor rund 3 Mio. Jahren humane Hominiden erstmals zweckmäßige Werkzeuge herstellten. Eine wichtige Bedeutung hatten dabei auch periodisch auftretende mit Verlagerungen der Erdachse zusammenhängende Klimaschwankungen. Denn diese brachten unterschiedliche ökologische Lebensbedingungen im Evolutionsprozess mit sich und lösten damit auch verschiedene Anläufe des Menschwerdungsprozesses aus, die schließlich auch unsere eigene Stammeslinie hervorbrachten.

Wesentliche Fortschritte

ergaben sich im Verlauf dieses Prozesses aus dem Übergang zum aufrechten Gang, damit der Spezialisierung der oberen Gliedmaßen, aus dem Wandel der Ernährungsgewohnheiten, und der Ausbildung einer adäquaten Gehirnstruktur, welche neue psycho-physische Möglichkeiten eröffnete. Bereits ein besonderer Zweig von frühen Homininen, der auch als Vormensch bezeichnet wird, entwickelte Werkzeuge und in weiterer Folge die Fähigkeiten zur Abstraktion, zum Denken in Begriffen, zur Kooperationsfähigkeit, zur Ausbildung eines Kommunikationssystems, und damit der Möglichkeit, gemachte Erfahrungen innerhalb der sozialen Verbände über Sprache zu tradieren.

Die ersten Vertreter der Gattung Homo.

Dabei lebten fast zwei Millionen Jahre mehrere Formen von Vormenschen (Sahelpithecinen, Australopethicinen, Paranthropinen, Orronin) und Urmenschen (erste Vertreter der Gattung Homo wie H. habilis, H. rudolfensis) nebeneinander, wobei man davon ausgeht, dass jedenfalls die »Wiege der Menschheit« in Afrika stand. Aus einer Art der Gattung Australopithecus entwickelten sich vor drei bis zwei Millionen Jahren die ersten Vertreter der Gattung Homo. Abbildung 2.

Abbildung 2, Evolution der Gattung Homo in den letzten 2 Millionen Jahren. Über lange Zeiträume lebten mehrere Formen von Vormenschen (pink:Paranthropus) und Urmenschen nebeneinander (Bild von Redn, eingefügt. Quelle: File:Homo-Stammbaum (2017), Version Stringer-en.svg.Dbachmann. Wikipedia; Lizenz: CC-BY-SA)

Bereits der Homo erectus und seine vielen Unterformen (wie H. ergaster, H. rhodesiensis, H. heidelbergensis), die zu den Vormenschen gezählt werden, verfügten vor rund 1,5 Mio. bis 700 000 Jahren bereits über ein Gehirnvolumen von etwa 1 000 cm3, sie beherrschten das Feuer, erzeugten Faustkeile, und waren geschickte Jäger, die große Teile der alten Welt besiedelten.

Homo erectus galt lange als die erste Art der Gattung Homo, die sich über Afrika hinaus verbreitete und weite Teile Eurasiens bis nach Südostasien besiedelte. Allerdings werden derart unterschiedliche Schädel und Zähne dem Homo erectus zugeschrieben, dass es mehr als fraglich ist, ob man diese tatsächlich zu einer einzigen Art zusammenfassen kann.

Vor ca. 800 000 Jahren entwickelte sich aus Homo erectus eine Form mit größerem Gehirn, die meist als Homo heidelbergensis bezeichnet wird; er gilt als ein Zwischenglied zwischen Homo erectus und Neandertaler (H. neanderthalensis) in Europa und Denisova-Mensch in Asien. Unterschiede in der DNA lassen darauf schließen, dass sich bereits vor etwa 600 000 Jahren die frühmenschlichen Abstammungslinien von Denisova-Mensch, Neandertaler, und verschiedenen neuerdings identifizierten afrikanischen Vorformen von derjenigen des modernen Menschen trennten, was aber nicht bedeutet, dass es nicht auch weiterhin zu einer Vermischung des Erbguts kommen konnte, denn die verschiedenen Menschenarten lebten über hunderttausende Jahre nebeneinander. Abbildung 3.

Homo sapiens

Aus den in Afrika verbliebenen Populationen des Homo erectus ging in der Zeitspanne zwischen 300 000 bis 200 000 Jahren in Ostafrika der archaische Homo sapiens hervor. Vor 70 000 Jahren begann sich dieser in ganz Afrika und dem Nahen Osten auszubreiten, vor 45 000 Jahren hatte er bereits ganz Asien und Europa besiedelt. Scharfe Trennungslinien zwischen einzelnen Arten und Gattungen lassen sich nicht ziehen und werden sich angesichts des spärlichen Fossilbestands vermutlich auch niemals mit Sicherheit ziehen lassen. Abbildung 3.

Abbildung 3. Die ältesten Homo sapiens-Funde sind 300 000 Jahre alt und es gab mehrmals Einmischungen archaiischer DNA. (Bild von Redn, eingefügt. Quelle: File:Homo sapiens lineage.svg (2018), Dbachmann. Wikipedia; Lizenz: CC-BY-SA 4. 0)

Die ältesten Homo sapiens-Funde sind 300 000 Jahre alt und stammen aus Marokko; 100 000 Jahre jünger sind die bisher ältesten Funde aus Äthiopien. Dieses Alter passt hervorragend zu Studien, die den Zeitpunkt der Trennung des modernen Menschen von seinen archaischen Vorfahren genetisch auf einen Zeitraum zwischen 260 000 und 350 000 Jahren festlegten.

Allerdings gab es bis vor etwa 30 000 bis 20 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung noch, wie Analysen der Erbanlagen aus Zellkernen und Mitochondrien von Fossilien anzeigen, mehrmals Einmischungen von recht archaischer DNA in Afrika, und in Europa und Asien haben sich moderne Menschen mit Neandertalern und Denisova-Menschen gekreuzt, und es finden sich Teile von deren beider Erbgut selbst noch in heutigen Menschen aus Europa, Asien und Melanesien. Vor allem Schädel und Skelett des Neandertalers sind durch zahlreiche Funde gut bekannt, die Neandertaler sind heute die am besten untersuchte Frühmenschenart, deren Genom vollständig entschlüsselt ist. Die ältesten Funde von Neandertalern in Europa wurden auf 175 000 Jahre datiert. Der Neandertaler lebte noch bis rund 30 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung in Europa und Westasien und ist damit bereits als ein Zeitgenosse des Jetztmenschen (Homo sapiens sapiens) anzusehen.


Viele Theorien und Hypothesen versuchen, das Rätsel der Menschwerdung zu erklären. Dieses Buch hat zum Ziel, all diese Theorien nebeneinander zustellen und aus den einzelnen Mosaiksteinen ein Gesamtbild der Humanevolution zusammenzusetzen – ein Vorhaben, das durchaus gelungen erscheint. Wie der Autor Dierk Busch den Stammbusch der Menschwerdung sieht, ist in Abbildung 4 vereinfacht dargestellt.

Abbildung 4. Der Stammbusch der Menschwerdung. Vereinfachte Darstellung nach Dierk Suhr (p. 110 (2018)) [1]. (Abb. von Redn. eingefügt. Bilder der Homininen sind Rekonstruktionen aus Wikipedia und stammen von 1:Mateus Zica, 2: Cicero Moraes, 3: Lillyundfreya, 4: Schnaubelt & N. Kieser, 5: Cicero Moraes. Alle Bilder stehen unter CC-BY-SA Lizenz)


[1] Dierk Suhr, Das Mosaik der Menschwerdung. Vom aufrechten Gang zur Eroberung der Erde: Humanevolution im Überblick, Springer Nature Verlag (2018), 236 Seiten, 53 Abbildungen, ISBN 978-3-662-56829-3; e-book ISBN 978-3-662-56830-9;

https://doi.org/10.1007/978-3-662-56830-9 


Weiterführende Links

Dr. Dierk Suhr, Geschäftsführer: Verein zur MINT-Talentförderung e. V., Düsseldorf, https://www.plus-mint.de/

Aug in Aug mit dem Neandertaler (2017). Klaus Wilhelm https://www.mpg.de/11383679/F001_Fokus_018-025.pdf

Mutter Neandertalerin, Vater Denisovaner! (22.8.2018) https://www.mpg.de/12205753/neandertaler-denisovaner-tochter

Great Transitions: The Origin of Humans — HHMI BioInteractive Video (veröffentlicht Dezember 2014, großartiges Video aus dem Howard Hughes Medical Institute, leicht verständliches Englisch) 19:44 min https://www.youtube.com/watch?v=Yjr0R0jgct4&feature=youtu.be

Artikel im ScienceBlog